Sind nur rei­che Schwei­zer, gute Schweizer?

Seit Anfang 2012 bin ich Vorsteherin Finanzen- und Steuerwesen von Spiez und deshalb werde ich heute über das liebe Geld sprechen. Zuerst drehe ich aber das Rad der Zeit  ganz mächtig zurück. Zurück in das tiefe 19. Jahrhundert. Europa im Strudel verschiedener Krisen, progressive Kräfte und konservative Kräfte bekämpften sich heftig. Es ist aber auch eine Zeit des Aufbruchs, des Zusammenraufens, des Glaubens an eine bessere Zukunft, vor allem in der Schweiz – wir befinden uns im Jahre 1848:

Unsere Staatengemeinschaft basiert in wesentlichen Zügen auf unserer Bundesverfassung von 1848 – und in der Präambel dieser Verfassung steht folgendes:

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung.

Liebe Anwesende: Wie halten wir es heute mit diesen Grundsätzen der Verfassung?
In der heutigen neoliberalen Welt würden man dieser Präambel ja „Mission Statement der Schweizerischen Eidgenossenschaft“ sagen.  Können wir heute, also 164 Jahre später, stolz „Mission Completed!“ verkünden?

Ich meine ganz klar NEIN!

In der real existierenden Schweiz von heute sind wir leider weit entfernt davon und wir entfernen uns immer weiter. Gerne beruft man sich auf den sogenannten «Mittelstand», dem es ja gut gehe. Dabei ist für alle klar, dass es soziale Klassen gibt. Ärztinnen und Verkäuferinnen, Bauarbeiter und Manager haben gänzlich verschiedene Chancen und Aussichten im Leben. Wer der Arbeiterklasse angehört, wohnt anders als Leute, die reich sind. Nicht nur beim Einkommen und Vermögen sind die Unterschiede gewaltig. Auch die Lebenserwartung und die Bildungschancen ihrer Kinder klaffen mächtig auseinander.
Wir leben in einer Leistungsgesellschaft​ und dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, doch diese Leistungsgesellschaft​ entwickelt sich immer mehr zu einer verdeckten Oligarchie, einer verdeckten Herrschaft der wenigen, der Reichen. Inzwischen sind wir soweit, dass die reichsten 2 Prozent in unserem Land für sich allein gleich viel besitzen wie die übrigen 98 Prozent der Bevölkerung zusammen. Die den Reichen nahestehenden Parteien überbieten sich mit politischen Bücklingen gegenüber den Privilegierten. Die Steuern für die Reichen der Schweiz  sind in den letzten Jahren systematisch gesenkt oder gar abgeschafft worden. Dafür haben sich ihre Einkommen dramatisch vergrössert, während dem sich der normale Büezer mit salbungsvollen 0-Runden begnügte.
Wir leben in einer Zeit der Verschärfung der Klassengesellschaft mit dem entsprechenden Verlust der Solidarität und der Ausblendung des entscheidenden Schlusspassus der Präambel der Bundesverfassung:
die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.

Und das Schockierendste daran ist: Wir lassen uns immer wieder von den Reichen und Mächtigen an der Nase herumführen…!

Hierzu​ ein Beispiel in näherer Betrachtung:

Die Unternehmenssteuerref​orm II ist wohl die abstruseste Geschichte der jüngeren Schweizer Finanz- und Steuerpolitik:
2008 informierte der damalige Finanzminister Hans-Rudolf Merz, dass seine Unternehmenssteuerref​orm II vor allem den kleinen Gewerblern zu Gute komme, also zum Beispiel den Metzgern und den Apothekern. Das Ganze werde die Kantone höchstens 850 Millionen Franken kosten. So stimmten die Metzgerin und der Bäcker, die Apothekerin und der Schneider der Unternehmenssteuerref​orm zu. Und erst später wurde klar, dass die Unternehmenssteuerref​orm nicht 850 Millionen sondern in Wirklichkeit 47 Milliarden – also rund 55 Mal mehr – kosten wird –
und dass zudem nicht das Kleingewerbe, sondern die erfolgreichen Grossunternehmen davon profitieren!

Und das Ganze funktioniert so: Wenn ein Unternehmen Aktien emittiert, d.h. herausgibt, dann wird einerseits der Nennwert der Aktie bezahlt, z.B. Fr. 50.- aber auch die sogenannte Agio, einen Aufpreis, z.B. Fr. 100.- Dieser Aufpreis kann damit begründet werden, dass der Wert der Aktien bald steigen werde. Diesen Aufpreis kann der Unternehmer für sich behalten als Reserve für den Fall, dass seine Produkte doch nicht so gut laufen oder dass sein Umsatz jäh einbricht. Dieser Betrag kann in der Bilanz passivseitig den gesetzlichen Reserven zugewiesen werden, womit sich letztendlich das Ausschüttungspotentia​l des Unternehmens steigern lässt, da dadurch die Pflicht zur Bildung von Reserven aus erwirtschafteten Gewinnen gemildert werden kann.

So weit so gut.

Die Aktien werfen jährlich Dividenden ab und auf Dividenden hat man Steuern zu bezahlen. Auf diesen Dividenden könnte man – so die Unternehmenssteuerref​orm II nach Herrn Merz – doch eine kleine Steuersenkung machen. 40% bei den Bundessteuern und 50% bei den Kantonssteuern. Da dies den Reichen zu wenig war, wurde der Trick mit dem Agiotopf erfunden. Ausschüttungen aus diesem Topf könnten von Unternehmern künftig steuerfrei an die Aktionäre ausbezahlt werden. Das wäre aber für diejenigen, die schon seit längerem Geld in einem Agiotopf haben nicht nützlich, deshalb erfand das Parlament zusätzlich die Möglichkeit, dass alle seit Anfang 1997 einbezahlten Agios steuerfrei sein sollen.

Dies stand in den Abstimmungsunterlagen​ zur Unternehmenssteuerref​orm II zwar drin, doch die Steuerausfälle, die durch die neu nicht mehr steuerpflichtigen Agioausschüttungen entstehen würden, wurden nicht in der Rechnung berücksichtigt.

Die Agio-Reserven der Schweizer Aktien-Gesellschaften​ sind bedeutend: Ende 2011 hatten 1’550 Gesellschaften der eidgen. Steuerverwaltung einen Gesamtbetrag von 545 Milliarden Franken an Reserven aus Kapitaleinlagen gemeldet. Und sie meldeten Rückzahlungen von Kapitaleinlagen in der Höhe von 21 Milliarden Franken an, wovon etwa 9 Milliarden Ausschüttungen ersetzen, die im Vorjahr NOCH hätten versteuert werden müssen. Im Jahr 2011 haben 63 börsenkotierte Gesellschaften oder 41 Prozent der Gesellschaften, die Mittel ausgeschüttet haben, Agio ausgeschüttet, sei es ausschliesslich oder in Kombination mit einer Ausschüt­tung in Form einer Dividende oder der Herabsetzung von Aktienkapital.

Hätte​ das Stimmvolk damals die ganze Tragweite erkannt, wäre die Unternehmenssteuerref​orm II wohl kaum angenommen worden. Die Nationalräte Margret Kiener Nellen und Daniel Jositsch haben denn auch beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht und eine Wiederholung der Abstimmung verlangt. Das Bundesgericht kam am 20.12. des letzten Jahres  zum Schluss, dass der Bundesrat die Abstimmungsfreiheit krass verletzt habe. Die Forderung nach einer Wiederholung wies das Bundesgericht jedoch ab.

Kennen Sie die direkten Folgen aus dieser ungeheuerlichen Unternehmenssteuerref​orm II ? Nein?
Nach heutiger Schätzung sind dies Einbussen pro Bürgerin und Bürger von fast 6000.-!

Und nun dürfen Sie raten wie diese Einnahmen-Ausfälle kompensiert werden:
Sparen bei der medizinischen Versorgung, bei der Bildung, beim OeV, durch Null-Lohnrunden bei Staatspersonal…

Dies​es Beispiel zeigt eindrücklich wo wir heute stehen:

Im Widerspruch zu demokratischen Prinzipien und zur Präambel unserer Bundesverfassung wird der masslose Reichtum einiger weniger gefördert, mit ständig neuen Privilegien werden die Reichen, immer noch reicher und mächtiger. Der Preis dafür bezahlt das einfache Volk.

 

Fazit

Unse​re sozialdemokratischen Überzeugungen und Werte sind nach wie vor wichtig und richtig.

Wir müssen unsere Positionen in naher Zukunft jedoch noch viel besser und viel überzeugender unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern nahebringen!

Und wir dürfen der zügellosen Gier und der Irrlehre der freien Marktwirtschaft nicht länger tatenlos zusehen: Wir müssen nicht den Klassenkampf kämpfen, sondern uns nur auf die Präambel der Verfassung berufen und uns auf unsere typischen Schweizer Werte besinnen:

Verantwort​lichkeit, Bescheidenheit und Solidarität!

Wir müssen zusammenstehen und diese Werte hochalten.

Dann wird es uns gelingen, die Auswüchse dieser neuen schweizerischen Oligarchie zu besiegen und eine neue gesellschaftliche Kultur zu etablieren:
Eine Kultur des solidarischen und fairen Miteinander anstelle einer Kultur die das Volk für dumm verkauft!

Werden wir wieder aktiver! Stehen wir offen und engagiert zu unserer Meinung, zu unseren Grundwerten. Und lassen wir uns nicht verkaufen!

 

******​*******

 

Bevor ich diese 1. Mai Rede schliesse möchte ich den Fokus noch auf ein für Spiez wichtiges und zukunftsweisendes Projekt lenken.

Seit Jahren fehlt unserer grossen Gemeinde eine attraktive Bibliothek und Ludothek und Gemeindehaus fehlen uns Büroräume. Das vergangene Woche vom GGR gutgeheissene Projekt Bibliothek/Ludothek/V​erwaltung wird nun am 17. Juni zur Abstimmung gelangen und ich gehe davon aus, dass wir, dass Sie alle sich für dieses Projekt engagieren werden. Unsere Gemeindefinanzen – und das sage ich als neue Vorsteherin Finanzen der Gemeinde Spiez ganz gerne – sind in einem guten Zustand und sie erlauben, dass diese grosse Investition geleistet werden kann und dass die Betriebskosten für die nächsten Jahre gesichert sind!

 

Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Comments to: 1. Mai Rede

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