Am 29. Mai 1874 trat in der Schweiz die revidierte Bundesverfassung in kraft. Diesmal durften alle damals Stimmberechtigten abstimmen – nämlich über die Totalrevision der seit 1848 bestehenden Bundesverfassung. Nachdem ein eher zentralistischer Verfassungsentwurf 1872 knapp am Widerstand von Katholisch-Konservativen und Föderalisten gescheitert war, war ein neuer Entwurf erarbeitet worden, der nun AUCH die Zustimmung der Föderalisten fand. Nach entsprechenden Reformen auf kantonaler Ebene wurden auch national die föderalen Volksrechte in der Schweiz in den letzten 150 Jahren schrittweise ausgebaut, verfeinert und modernisiert. So wurde etwa das ReferendumUnter einem Referendum versteht man die Volksabstimmung übe... als Kontrollinstrument bei Parlamentsgesetzen 1874 in die Bundesverfassung aufgenommen. Das Recht auf Verfassungsinitiativen durch das Volk kam im Jahr 1891 hinzu.
(Bild oben: Gedenkblatt zur Abstimmung über die Bundesverfassung vom 19. April 1874)
Die 1874 angenommene Verfassung hatte bis 1999 Bestand und bestimmt mit ihren direktdemokratischen und föderalistischen Grundzügen die Schweizer Politik bis heute. Der vom BundesratDer Bundesrat der Schweiz bildet die Exekutive bzw. Regierun... präsentierte Revisionsentwurf kam den Föderalisten entgegen, indem er die Bundeskompetenzen in den Bereichen Armee, Rechtsvereinheitlichung und Schule gegenüber der Vorlage von 1872 deutlich zurückschraubte. So sollte sich die Zuständigkeit des Bundes vorerst auf die Gesetzgebung über die persönliche Handlungsfähigkeit, das Obligationenrecht, die Handels- und Wechselfreiheit sowie das Betreibungs- und Konkursrecht beschränken.
Angesichts des weiterhin erbittert geführten Kulturkampfs stellte der Entwurf religionspolitische Aspekte in den Mittelpunkt. Mithilfe konfessioneller Ausnahmeartikel sollte der Machtanspruch der Römisch-katholischen Kirche in die Schranken gewiesen werden. Dazu gehörten ein Verbot des Jesuitenordens, das Verbot der Errichtung oder Wiedererrichtung von Klöstern sowie das Verbot der Einrichtung neuer Bistümer in der Schweiz ohne ausdrückliche Genehmigung des Bundes. Ausserdem sollte Angehörigen des geistlichen Standes die Wahl in den NationalratDer Nationalrat stellt neben dem Ständerat die grössere de... verwehrt werden.
Das Militärwesen sollte Sache des Bundes sein, allerdings sollten die Kantone ihre Truppen beibehalten dürfen. Als Zugeständnis an Konservative und Demokraten hielten die Räte am Übergang von einer repräsentativen zu einer halbdirekten Demokratie fest und bestätigten den bereits 1872 gefällten Beschluss, fakultative Referenden einzuführen. Mit Kompromissen gelang es, die massgebenden föderalistischen Freisinnigen und Liberalen der Romandie für das Projekt zu gewinnen.
Gegen die Katholisch-Konservativen gerichtet war eine Bestimmung im Schulartikel, wonach der Primarschulunterricht obligatorisch und kostenlos sein müsse sowie von Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden dürfe.
Im Wesentlichen umfasste der Verfassungsentwurf die folgende Neuerungen:
- Erweiterung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes in bestimmten Bereichen als Grundlage für eine einheitliche Rechtsanwendung, gesichert durch das jetzt ständige Bundesgericht.
- Glaubens- und Gewissensfreiheit für alle Glaubensgemeinschaften und nicht nur der beiden grossen christlichen Konfessionen (unter Vorbehalt der konfessionellen Ausnahmeartikel gegen die Römisch-katholische Kirche)
- Erweiterung der Niederlassungsfreiheit ohne Einschränkung der Ausübung politischer Rechte
- Abschaffung von Körperstrafen, Schuldhaft und Todesstrafe
- Übertragung sämtlicher Angelegenheiten des Zivilstands von geistlichen Behörden an den Staat
- Einführung von fakultativen Referenden, für die 30’000 Unterschriften erforderlich sind
Von 1860 bis 1874 organisierten sich Schweizer Frauen erstmals in der Schweizer Frauenbewegung. Sie forderten die zivilrechtliche und politische Gleichstellung in der Bundesverfassung. Obwohl es im Vorfeld grosse Diskussionen für und gegen die politischen Rechte der Frauen gegeben hatte, kamen in der neuen VerfassungEine Verfassung ist die rechtliche Grundordnung bzw. das obe... von 1874 keine Frauen vor …
Nun wechselten die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Genf, Graubünden, Neuenburg und Waadt ins JA-Lager, wodurch nun auch das notwendige Ständemehr entstand. In Kraft trat die neue VerfassungEine Verfassung ist die rechtliche Grundordnung bzw. das obe... am 29. Mai 1874.
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Kommentare anzeigen Hide commentsIn der Schweiz kann heute gegen die meisten mühsam ausgejassten Kompromisse der eidg. Räte das Referendum ergriffen werden. Nun sollten die Stimmberechtigten die Verantwortung übernehmen – tun sie aber nicht. Im Unterschied zu den Parlamentariern müssen sie nicht öffentlich zu ihren Entscheiden stehen. Die Gemeinwohlorientierung bleibt auf der Strecke.
Heute entwickelt die direkte Demokratie viele Behinderungen der parlamentarischen Demokratie: Gegen Kompromissentscheide der eidg. Räte, welche die von den Wählenden abgebildeten Mehrheitsverhältnisse bereits abbilden, wird regelmässig das Referendum ergriffen. Die geheim abstimmenden Stimmberechtigten können diese Entscheide locker zu Fall bringen, weil sie ja nicht, wie die Parlamentarier zu ihrem Entscheid öffentlich stehen müssen. National- und Ständerat werden geschwächt.
Es ist heute zu leicht, ein Referendum oder eine Initiative zu starten. Deshalb muss die verlangte Anzahl der Unterschriften für Referenden und Initiativen drastisch erhöht werden.
Mehr Unterschriften für Referenden und Initiativen?
Seit die Mitte-Parteien die Dominanz in der Schweizer Politik verloren haben, wird es immer schwieriger, mehrheitsfähige Kompromisslösungen zu finden. Das mag man bedauern. Die Zeiten sind aber endgültig vorbei, wo ein paar Polit-Prominente Auswahl, Gewicht und Priorität der politischen Themen bestimmen konnten. Freuen wir uns doch über den neuen politischen Aktivismus in der Bevölkerung und bei den Parteien. Er könnte dazu führen, dass die Stimmbeteiligung steigt und das Wissen zunimmt, wie mit Abstimmungsvorlagen und Gegenvorschlägen umgegangen werden muss. Initiativen und Referenden sind eine Aufforderung an das Volk, sich fundiert mit politischen Fragen verschiedenster Art auseinanderzusetzen. Wir sollten die Hürden für Volksabstimmungen nicht erhöhen.