“Der moderne Mensch leidet unter einer Zwangsneurose, alles analysieren zu müssen. Er muss wissen, ob sein Ernährungsverhalten optimal ist und nicht durch zu viel Zucker, Fett oder Fleisch dominiert wird, ob er sich ausreichend bewegt und seine Cholesterinwerte im grünen Bereich liegen. Aber er will auch wissen, wie die Beziehung zu seiner Partnerin, seinen Freunden und Eltern gestaltet ist, und ob da wirklich ein Gleichgewicht des Gebens und Nehmens herrscht. Aber er möchte auch herauszufinden, ob das Geld optimal angelegt ist und das Portfolio dem eigenen Risikoprofil entspricht. Und Eltern überlegen sich schon bei Kleinkindern, mit welchen Massnahmen sie heute die spätere Karriere ihrer Kinder positiv beeinflussen können.
Das sind nur ein paar wenige Beispiele für den überbordenden Analyseeifer in der heutigen Zeit. Alles muss hinterfragt, analysiert, bewertet und schliesslich optimiert werden. Und nichts darf einfach so akzeptiert werden, wie es ist. Permanent müssen Verbesserungspotentiale eruiert werden, um dann…. Ja was eigentlich? Ein glücklicheres Leben zu führen? Genau das funktioniert nicht. Dauerndes Analysieren führt stattdessen zielsicher in die Unzufriedenheit.
Doch ständiges Analysieren macht nicht nur unzufrieden, weil es zu keinem brauchbaren Resultat führt. Um Freude an Menschen und Dingen zu haben, muss man ihnen eine bestimmte Vagheit und Unbestimmtheit lassen. Wir wissen letztlich nicht so genau, weshalb wir einen Menschen lieben oder schätzen, weshalb wir gerne Jazzmusik hören oder gerne im Wald spazieren gehen. Wenn wir aber anfangen, solche Sachverhalte erklären zu wollen, dann nehmen wir ihnen einen Teil ihres Zaubers, in dem gerade das Glückspotential steckt.
Damit soll keineswegs behauptet werden, dass wir einfach alles hinnehmen und nichts mehr hinterfragen. Aber es gibt irgendwo ein Optimum an Analyse und wenn man dieses überschreitet, schadet sie dem Glück. Analysieren sie deshalb nicht zu viel und akzeptieren sie glücklich machende Menschen und Dinge, so wie sie sind.“ (Prof. Mathias Binswanger in Nebelspalter vom 5.10.2021)
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