Hier die Wür­di­gung einer weiteren ver­ges­se­nen, aber be­deu­ten­den Schwei­ze­rin: Anna Pesta­loz­zi-­Schul­t​​​​​​​​​​​​​​​​​hess wurde 1735 in Zürich geboren – als Toch­ter eines ver­mö­gen­den Zucker­bäckers und Dro­gis­ten. Eine be­ruf­li­che Aus­bil­dung der hoch­be­gab­ten Mu­si­ke­rin als Pia­nis­tin und Kom­po­nis­tin stand im 18. Jahr­hun­dert nicht zur Dis­kus­sion; Anna kam es also nie in den Sinn, einen sol­chen Wunsch zu äus­sern. Sie be­sorgte für ihren Va­ter, der oft un­ter­wegs war, die Ge­schäf­te. 1769 hei­ra­tete sie mit 34 – ge­gen ­den Wil­len ihrer El­tern – den mit­tel­lo­sen Agronomen Hein­r​​​​​​​​​​ich Pesta­loz­zi.

1770 erwarb das Stadtzürcher Ehepaar in der Gemeinde Birr AG 36 ha Land für einen Musterbetrieb. Die Mitgift von Anna finanzierte das Unterfangen weitgehend. 1771 zog die junge Familie in den Neuhof ein. Als Heinrich die Angestellten nicht mehr bezahlen konnte, entliess er sie. Er nahm 37 arme Kinder auf, die gratis auf den Äckern arbeiten mussten, und versuchte durch Kinderarbeit doch noch einen Gewinn zu erwirtschaften, um sein Überleben zu sichern. Im Winter mussten die Knaben in der zugigen Scheune weben – barfuss; der „Unterricht“ durch Pestalozzi erfolgte während des Webens. U. a. Ohrfeigen waren ein Erziehungsmittel Pestalozzis. Die Mädchen mussten im Untergeschoss des Wohnhauses spinnen – ohne Unterricht. Es handelte sich also um ein Arbeitshaus. Anna war als Hausmutter und Hauswirtschafterin für das Wohl aller Zöglinge allein verantwortlich – auch in den späteren Anstalten des Ehepaars. Als das Geld wieder ausging, liess sich Anna von den Eltern ihr Erbteil auszahlen.

 

Der​​​​​ Neuhof bei Birr (Kolorierter Stich von J. Aschmann nach J. H. Schulthess 1780, ZB Zürich)

1770 kam Jakobli zur Welt. Die Erziehung des Sohnes durch den Vater, gilt als ein erschütterndes Dokument einer schwerwiegenden Fehlinterpretation der hypothetischen Pädagogik Rousseaus durch Pestalozzi. Bereits mit drei Jahren musste Jakobli die Zahlen und Buchstaben lernen. Der Vater war sehr streng: Wenn der Kleine nicht lernen wollte, wurde er hart bestraft. Ausserdem musste er wie die Zöglinge auch im Winter barfuss gehen. Zu dem allem hatte Anna offenbar nichts zu sagen. – Bereits mit elf Jahren wurde Jakobli zur Erziehung zu Freunden nach Basel weggebracht. Wenig später brachen bei ihm epileptische Anfälle aus.

Heinrichs Int​​​​​​er​​​​​​​​​​​esse​ an Menschen und besonders an der Erziehung junger Menschen war ausschliesslich theoretisch. Als praktisch unbeholfener Schwärmer und Chaot hatte er sich aber in den Kopf gesetzt, praktisch tätig sein. Die praktische Verantwortung für seine zahlreichen unternehmerischen Projekte übertrug er jedoch immer Anna, letztlich auch immer die Finanzierung. Erfolgreich war Heinrich Pestalozzi nur mit der Schriftstellerei, und auch das nur mit der aufopfernden Unterstützung Annas. So schrieb sie das gesamte Manuskript für «Lienhard und Gertrud» allein, mithilfe der fast unleserlichen Zettelanhäufung Heinrichs und lieferte es fristgerecht ab. Ohne Anna wären auch andere Manuskripte nie rechtzeitig fertig worden. Ihr notgedrungen wesentlicher schriftstellerischer Beitrag zu den Werken ihres Mannes wurde nie gewürdigt.

Etwas Entspannung fand Anna in seltenen Fällen beim Klavierspiel und Komponieren, beim Kartenspielen mit Freundinnen und beim Lesen. Auch das Tabakschnupfen bereitete ihr manchmal eine kleine Freude.

Bereits 1780 hatte der Ehemann das überall geliehene Geld und das gesamte Vermögen seiner Frau «verwirtschaftet»; die landwirtschaftliche und textile Produktion im Neuhof musste abgebrochen werden. Über weitere 25 Jahre wirkte dann das Ehepaar in weiteren Anstalten – in Stans, Burgdorf und Yverdon. Die Last trug immer Anna.

Als Pestalozzis das Institut in Yverdon übernahmen, war Anna bereits über 60 und gesundheitlich schwer angeschlagen. Dennoch hatte sie wiederum die hauswirtschaftliche Leitung inne und für das Wohlergehen der Zöglinge zu sorgen. Den Unterricht übertrug Heinrich Pestalozzi ganz den Lehrern. Auch als Schulleiter war er unfähig. Anna starb 1815 in Yverdon – infolge einer Hustenerkrankung.

 

Personen haben auf diesen Beitrag kommentiert.
Kommentare anzeigen Hide comments
Comments to: ANNA SCHULTHESS, DIE TÜCHTIGE FRAU HINTER HEINRICH PESTALOZZI
  • April 11, 2022

    Am 20. Januar 1927 erfolgte in der Lehrerzeitung ein dringender Spendenaufruf für ein neues Grab für die Gebeine von Anna Pestalozzi-Schulthess auf dem Friedhof von Yverdon-les-Bains. (Centre de documentation et de recherche Pestalozzi, Yverdons-les-Bains).

    Kommentar melden

Kommentar schreiben

Neuste Artikel

  1. Sozialpolitik & Sozialsysteme
NEIN zur Renteninitiative der Jungen-FDP Die Altersvorsorge-Reform darf sich nicht auf die Parameter „Erhöhung des Rentenalters“ und „Beitragserhöhung“ abstützen. Es sind neue Finanzquellen zu erschliessen, z. B. Mikrosteuern, Luxussteuern, Umlagerung des Bundesbudgets zugunsten der AHV.
  1. Wirtschaft
Teilzeitarbeit hat zwar (noch) nicht zugenommen; trotzdem bleibt Arbeitskräftepotenzial ungenutzt. Die Work-Life-Balance- und die Gleichberechtigungsdiskussionen sowie die Erfahrungen mit Homeoffice während der Pandemiezeit haben den Fokus auf die Vorteile der Teilzeitarbeit verstärkt. Die Einkommens- und Vermögensprogression bei der Besteuerung sind kein Anreiz für eine höhere Arbeitsbeteiligung.

Bleiben Sie informiert

Neuste Diskussionen

Willkommen bei Vimentis
Werden auch Sie Mitglied der grössten Schweizer Politik Community mit mehr als 200'000 Mitgliedern
Tretten Sie Vimentis bei

Mit der Registierung stimmst du unseren Blogrichtlinien zu