1. Aussenpolitik

China in der Krise

China in der Krise

 

Der Verfasser, ein Freund Chinas, hofft, dass sich das Land (sowie weitere Staaten, darunter auch Europa) zu einer verantwortungsvollen Supermacht entwickle, deren wie auch immer gestaltetes politisches System und Rechtswesen für westliche Demokratien annehmbar ist.  So könnte es zu einem globalen Gleichgewicht der Kräfte beitragen, wie es Europa mit einem kurzen Unterbruch vom dreissigjährigen Krieg bis zum 1. Weltkrieg kannte.

 

Ob es diese Rolle wird übernehmen können, ist gegenwärtig aber völlig offen, befindet es sich doch in einer von der Weltöffentlichkeit noch nicht wahrgenommenen tiefen Krise. Es hat die Herzen seiner modernen BürgerInnen verloren. Der Ausgang der Krise ist ungewiss, da niemand weiss, was hinter der „Harmonie“ vorspiegelnden Fassade im Zentrum der Macht wirklich abläuft. Als sie letzthin einen Riss bekam, drang das grelle Licht des „Falles“ BO Xilai nach aussen. Grosse politische Überraschungen in dieser oder jener Richtung können nicht ausgeschlossen werden.

 

Dazu kommt die landesweit zerrüttete Moral und die Korruption, die zu einer Kaskade von grossflächigen, gesundheitsgefährdend​en Lebensmittel-, Kosmetik- und Pharma-Panschereien führt. Die raffinierte Kreativität der Betrüger im Internet ist fast bewunderungswürdig. Bei vielem, was unternommen wird, fehlt deswegen die Nachhaltigkeit. Allein im Juli 2011 sollen vier, nur wenige Jahre alte Brücken eingebrochen sein und vor wenigen Wochen ist die Unterlage einer soeben fertig gestellten Trasse einer Hochgeschwindigkeitss​trecke der Bahn unter starkem Regen auf 600 Meter zerflossen. Sie drückt sich auch in bis zu 50-stöckigen Hochbauten aus, deren dafür bereitgestellte Mittel in den Taschen der  Mächtigen landen. Sie werden deshalb oft aus billigstem, z.B. leicht brennbarem Material gebaut und brennen im Nu ab, wenn sie nur schon von einer Feuerwerksrakete oder, wie kürzlich in Shanghai, bei der Renovation einen Wohnhochhauses beim Schweissen von einem Funken getroffen werden (und dann 70 Menschen in ihren Wohnungen verbrennen).  Die beinahe täglichen Meldungen über Grubenunglücke sind auch ein Zeichen dafür, dass die Zusammenarbeit zwischen korrupter Partei und Kapital gut funktioniert. Die katastrophale Verschmutzung der Luft, des Bodens und der Gewässer, mit den deswegen rasch wachsenden gesundheitlichen Problemen, zeigt ebenfalls, dass die Priorität bei der schnellen Bereicherung der politisch und wirtschaftlich Mächtigen liegt.

 

Einschränk​end muss festgehalten werden, dass der  Verfasser kaum Einblicke in die Gedanken der Bevölkerung auf dem Land hat. Das sind rund 600-700 Millionen Menschen. Höchstens manchmal erhellt ein Blitzlicht die Lage dort, wenn Bekannte über die Stimmung auf dem Land berichten. Die zahlreichen „mass incidents“, „Massenzwischenfälle“​, in landwirtschaftlichen Gebieten,  wie sie euphemistisch von den chinesischen Medien genannt werden und die manchmal sogar bei uns bekannt werden, scheinen aber anzudeuten, dass es auch dort rumort.

 

Auch muss man davon ausgehen, dass die anteilmässig immer noch grosse Zahl der sehr Armen unter der städtischen Bevölkerung, die über keine, den heutigen Anforderungen entsprechende Berufsausbildung verfügen und die nicht in die moderne Wirtschaft integriert sind,  alle Gedanken auf ihr tägliches Überleben richten müssen, und nur bei Ausbrüchen von Gewalt ihre potenzielle Unzufriedenheit in die Waagschale eines Aufruhrs legen würden, dann allerdings mit der Wucht eines Tsunami.

 

Schliess​lich ist es der Staatsführung mit ihrer für Chinesen in China typischen, völlig starren Denkweise bis heute nicht gelungen, mit ihren grossen ethnischen Minderheiten einen für beide Seiten annehmbaren Modus Vivendi zu finden, obschon ein solcher möglich wäre, hat doch z.B. der Dalai Lama, trotz gegenteiliger Behauptungen der chinesischen Regierung, noch nie gefordert, Tibet sei von China abzuspalten. Der gewaltlose und bisher erfolglose Kurs des Dalai Lama wird deshalb von jüngeren Tibetern im Exil zunehmend in Frage gestellt. In Tibet selber verbrennen sich immer mehr Mönche und Nonnen aus Protest gegen die chinesische Politik (In letzter Zeit bereits gegen 40). Das chinesische Regime sieht in der Repression das einzige Mittel. So wurden kürzlich weitere 8500 Polizisten nach Kashgar, der Hauptstadt der aufmüpfigen Provinz der muslimischen Uiguren verschoben, und vor wenigen Wochen befahl die Zentralregierung der Provinzregierung Tibets gemäss chinesischen Presseberichten wörtlich, den „Krieg“ vorzubereiten – gegen erwartete Aktionen der Anhänger des Dalai Lama anlässlich des bevorstehenden Kongresses der kommunistischen Partei, an dem die Führung des Landes für die nächsten, wahrscheinlich 10 Jahre bestimmt werden soll.

 

Aber das entscheidende Merkmal der tiefen Krise ist die heutige Einstellung der informierten, staatstragenden Bevölkerungsschicht zur kommunistischen Partei, d.h. der wohl einige hundert Millionen Chinesen, die über eine moderne Ausbildung verfügen oder sogar einen gewissen Wohlstand erreicht haben. Dieser Schicht gehören nicht nur Intellektuelle, Künstler und höhere Kader an, sondern vor allem auch Kindergärtnerinnen, Lehrer, Ingenieure, Facharbeiter, Sekretärinnen,  Buchhalter, kurz, der durchschnittliche Mensch, der in Wirtschaft, Erziehung und Verwaltung tätig ist, und viele extrem frustrierte junge Leute an den Universitäten.

 

Bi​s vor wenigen Jahren herrschte bei diesen Menschen eine Aufbruchstimmung. Seit der 1978 erfolgten Öffnung hatte eine stetige Verbesserung stattgefunden, nicht nur der Lebensumstände des Einzelnen, sondern besonders auch der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. In den Medien fanden erstaunlich offene Debatten über zentrale Fragen statt und alle hatten das Gefühl, das Land wandle sich langsam zum Besseren. (Angesichts der Dimensionen in allen Bereichen und der Grösse der Probleme kann in China ein erfolgreicher Wandel nur in kleinen Schritten erfolgen). Aber das Beispiel der Revolte in den arabischen Ländern, unterstützt noch durch die Erinnerung an einen vorangegangenen Aufmarsch der gewaltlosen Falun Gong Bewegung in Beijing, hatte die Regierung in Panik versetzt und leitete den Rückmarsch im Eilschritt ein. Offene Debatten über Grundfragen sind heute in den Medien nicht mehr möglich.

 

Wegen des Fehlens von Information darüber, was im Machtzentrum wirklich passiert, fliegen die wildesten Gerüchte landesweit durchs Internet. Was zeigt deutlicher die grosse Unsicherheit der chinesischen Regierung, als das kürzliche, vorübergehende Abschalten und Bestrafen mit deftigen Bussen der 16 grössten einheimischen Internetplattformen (WEIBO u.a.), die als Ersatz für die von der chinesischen Zensur blockierten internationalen Internettreffpunkte wie Facebook, Twitter etc. aufgebaut worden waren? Sie wurden wegen des Verbreitens von „Gerüchten“ abgeschaltet und gebüsst. Zahlreiche private Computerbesitzer, die über ihre Blogs diese „Gerüchte“ weiter verbreitet hatten,  sitzen deswegen gegenwärtig sogar im Gefängnis. Das massive Drehen an der Repressionsschraube kommt auch sichtbar zum Ausdruck, wurde doch sogar das Herz Chinas, der Tian’anmen Platz in Beijing, durch Barrikaden abgesperrt und durch Mauern unterteilt. Oft können die chinesischen Familien dort nur noch ihren Sonntagsspaziergang machen, nachdem sie Sicherheitshäuschen passiert haben, wo ihre Taschen von Scannern durchleuchtet und sie selber von Polizisten abgetastet werden.

 

Nachdem auch im heutigen China immer noch Mao Zedong’s Dictum gilt, wonach alle Macht aus den Gewehrläufen komme und die geschilderte Bevölkerungsschicht den Glauben an eine schrittweise Reform verloren hat, haben diese Menschen resigniert und wollen weg, das Land für immer verlassen, möglichst nach Europa oder in die USA. Sollte es sich herumreden, wie leicht man in Europa als „Flüchtling“ aufgenommen wird, oder nur schon, dass man dort bis zu einem lange abzuwartenden Entscheid bleiben kann, und dass man ab Ankunft finanzielle Hilfe erhält, die oft ein Mehrfaches des eigenen Monatseinkommens  ausmacht, könnte ein Flüchtlingswelle ausgelöst werden, die viele Dutzend Millionen Menschen umfassen und alles Bisherige weit in den Schatten stellen würde.

 

Die, die wissen, dass sie wegen ihrer materiellen oder familiären Lage nie werden auswandern können, gehen wütend in die innere Emigration. Als der Verfasser kürzlich eine Person  kennen lernte, die in einer der grossen Banken eine sehr gut bezahlte Kaderstelle hat und er im Gespräch meinte, es schiene ihm, viele Chinesen hätten eine grosse, stille Wut aufgebaut, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Ich gehöre auch dazu“. Die Parteipresse gibt Gegensteuer und ruft die Menschen auf, ihre politische Reife durch ihr tiefes Vertrauen in die Kommunistische Partei zu beweisen. Vergeblich. Jedermann weiss, wie korrupt die Partei ist, und dass ihre Führer nur an der Erhaltung ihrer Macht und der damit verbundenen Pfründe interessiert sind.

 

Selbst 15% derjenigen, die in materiell sehr guten Umständen sind, wollen für immer weg, wie eine kürzlich in der chinesischen Presse veröffentlichte Umfrage ergab. Darüber hinaus haben viele hohen Beamte, die wissen, wie es hinter der Kulisse wirklich aussieht und die vom Volksmund luǒ guān genannt  werden („nackte Beamte“), schon ihre Familien und ihre durch Korruption angehäuften Vermögen ins Ausland verschoben (mit anderen Worten, sie sind „nackt“ zurückgeblieben). Die, die ihr Vermögen durch Grossbetrug erworbenen haben, sind ihm ohnehin schon nachgereist. Als der Verfasser einen Zufallsbekannten, Abteilungsleiter in einem grossen Staatsbetrieb mit sehr gutem Einkommen und mit moderner Eigentumswohnung, erstaunt fragte, warum er trotz seiner sehr guten Lebensumstände weg wolle, meinte der, er wolle nicht mehr im Lande sein, wenn das System zusammenbreche.

 

K​önnte es sein, dass auch die Chinesische Regierung, die wohl sehr gut über die Stimmung im Lande informiert ist, deshalb das seit langem weltweit bewährte Mittel anwendet, das Land durch immer lauter werdende Kriegstrommeln hinter sich zu scharen? Seit mehr als einem halben Jahr werden durch gewisse Parteizeitungen Kriegsdrohungen gegen Nachbarländer ausgestossen, die an Deutlichkeit nicht zu übertreffen sind: „Sie (Vietnam und die Philippinen wurden namentlich genannt) müssen sich an den Lärm von Kanonen gewöhnen“ (falls sie Chinas territoriale Ansprüche nicht anerkennen, der Verf.). „Jetzt ist wahrscheinlich die beste Zeit für uns… als erster loszuschlagen“. „Die Kriegsgefahr in der Region steigt von Sekunde zu Sekunde“). Vor wenigen Tagen musste die chinesische Regierung Gerüchte in chinesischen Blogs dementieren, wonach die Streitkräfte und die Flotte in Südchina Kampfbereitschaft erstellten.

 

Selbs​t ein militärischer Konflikt mit den USA wurde im Herbst 2011 als „unausweichlich“ bezeichnet, „falls“ dieser oder jener Kriegsgrund eintrete. Darunter wird die Verletzung der territorialen Integrität Chinas genannt, dessen Anspruch im südchinesischen Meer, der Wasserstrasse der Welt mit dem grössten Verkehrsaufkommen,  bis gegen Indonesien reicht und deshalb im Konflikt mit  Ansprüchen zahlreichen anderer Staaten der Region steht, und im Osten z.B. auch von Japan beanspruchte Inselgruppen einschliesst. Die Region rüstet deshalb auf und die kleineren Staaten lehnen sich militärisch an die USA an.  Der Stadtstadt Singapore hat Stealth Kampfflugzeuge bestellt, Indonesiens Luftwaffe wird von den USA aufgerüstet und das streng kommunistische Vietnam hat soeben gemeinsam mit der US Navy Flottenmanöver durchgeführt.

 

Sol​che Drohgebärden in der Parteipresse müssen im Lichte der Tatsache gesehen werden, dass die rund 2.3 Millionen Soldaten umfassende  Volksbefreiungsarmee​, mit dem ganzen Arsenal moderner Waffen bis hin zu atomaren Interkontinentalraket​en, weder der chinesischen Regierung noch dem Parlament, sondern der kommunistischen Partei Chinas, bzw. direkt deren Zentraler Militärkommission untersteht, die vom Generalsekretär der Partei präsidiert wird. Dieser ist in Personalunion auch Staatspräsident und entscheidet über Krieg und Frieden.

 

Was Chinas territoriale Ansprüche betrifft – ob diese nach internationalen Recht begründet sind oder nicht, sei dahingestellt – muss man davon ausgehen, dass wohl fast alle Chinesen, darunter selbst Gegner des Regimes,  in dieser Frage hinter der Regierung stehen, wie sie auch eine starke Armee unterstützen. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an 150 schmerzliche Jahre der Invasionen, der Fremdherrschaft und Kolonisierung, der Annexionen und Demütigungen durch die grossen europäischen Mächte, Japan und die USA. Kein Chinese will, dass solche Zeiten je wiederkehren. (Was für ein Kontrast zur Haltung vieler Schweizer und erst recht zur Politik der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, die auf Grund langer Jahre des weltgeschichtlichen höchsten Lebensstandards glauben, dieser friedliche Zustand sei für alle Zeiten gottgegeben und wir bräuchten keine glaubwürdige Armee mehr).

 

Angesichts​ dieser Kriegsdrohungen ist es nicht verwunderlich, dass kürzlich eine Sprachlehrerin am Ende einer Chinesischlektion in Beijing dem Verfasser so ganz beiläufig sagte, eine ihrer Kolleginnen habe sie gefragt, wann nach ihrer Meinung der Krieg ausbreche.

 

Viele chinesischen JournalistenInnen sind hoch gebildete, umfassend orientierte und weltoffene Menschen. Sie leiden auch unter der gegenwärtigen Eiszeit.  Manchmal gelingt es deshalb einer bedeutenden Parteizeitung,  wie zu Anfang dieses Jahres, vor der Zensur sehr gut versteckt, weit hinten in einem seitenfüllenden Artikel über ein kulturelles Ereignis, auf den heutigen Zustand des Landes aufmerksam zu machen. Das Blatt wies darauf hin, dass das besprochene Ereignis auf einen sehr alten Roman zurückgehe, der vor mehreren hundert Jahren,  während der Zeit des schlimmsten moralischen und staatlichen Verfalls des Reiches der Mitte geschrieben worden sei, um dann anzufügen, der heutige Zustand Chinas sei noch viel schlimmer als damals.

 

Im Interesse des Landes und der Welt ist dringend zu hoffen, dass die bald zu bestellende neue Führung China wieder auf den Weg des weiteren Aufbaus eines modernen, der internationalen Zusammenarbeit und dem Frieden verpflichteten Staates zurückführt.

 

Gott​hard Frick, Bottmingen, Schweiz              ​                     ​                14.5.2012

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