Eines der klügsten Bücher, das der an po­li­ti­schen und his­to­ri­schen Zusammenhängen in­ter­es­sierte Zeit­ge­nosse lesen kann, heisst «Die Tor­heit der Re­gie­ren­den – Von Troja bis Vietnam». Ge­schrie­ben hat es die 1989 ver­stor­bene ame­ri­ka­ni­sche His­to­ri­ke­rin und Jour­na­lis­tin Bar­bara Tuch­man. Mit Blick auf die ak­tu­elle Eu­ro-­Krise würde die Au­to­rin ihr Werk wohl um ein Ka­pi­tel er­wei­tern. Po­li­ti­k.ch hat die­sen Ar­ti­kel be­reits Ende letz­ten Jah­res ge­schrie­ben und veröffentlicht. Er hat an sei­ner Aktualität nichts eingebüsst!

Was ist Torheit? Barbara Tuchman definiert sie als ein den eigenen Interessen zuwiderlaufendes Verhalten. Nun ist es allerdings nicht so, dass sie einfach mit dem Wissen späterer Generationen um die Folgen geschichtsträchtiger Entscheidungen Zensuren verteilt. Im Gegenteil. Sie qualifiziert ein Handeln nur dann als töricht, wenn drei genau definierte Kriterien erfüllt sind: So muss eine Politik bereits zu ihrer Zeit, und nicht erst im Nachhinein, als kontraproduktiv erkannt worden sein. Es muss also hinreichend warnende Stimmen gegeben haben. Weiter muss es praktikable Handlungsalternativen​ zu der kritisierten Politik gegeben haben. Und schliesslich muss diese, zur Vermeidung der Fixierung auf einzelne Personen, von einer ganzen Personengruppe verfolgt und als richtig betrachtet worden sein.

Anhand des mythologischen Modellfalls der Trojaner, die das hölzerne Pferd, in dem sich die Griechen versteckten, in ihre Stadt zogen, erläutert Barbara Tuchman, was man unter törichtem Verhalten zu verstehen hat. Weitere Beispiele bieten ihr die Renaissancepäpste, die eine Kirchenspaltung provozierten, die Briten, die im Zuge einer verfehlten Steuerpolitik Amerika verloren, und die US-Regierung, die sich in Vietnam immer tiefer in einen nicht zu gewinnenden Krieg verstrickte.

Es fehlte nicht an Warnungen

Die dramatische Geschichte der europäischen Einheitswährung Euro passt nahtlos zu diesen Beispielen. Was Helmut Kohl, François Mitterand und Jacques Delors Mitte der 90-er-Jahre über die Köpfe der betroffenen Menschen hinweg getan haben, war töricht.

Von Anfang an fehlte es nicht an Stimmen, die vor der Einführung einer Einheitswährung ohne einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik warnten. Doch die Politiker machten aus einer wirtschaftlichen eine politische Frage und beantworteten sie entsprechend falsch. Aus Sicht der Franzosen war die Aufgabe der Mark der Preis, mit dem sich die Deutschen ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung zu erkaufen hatten. Sie wussten, dass Helmut Kohl dafür kein Opfer zu gross war. Umgekehrt dachten die Franzosen keine Sekunde daran, die Meinung ihrer “europäischen Freunde” einzuholen, als sie, wirtschaftspolitisch bedeutsam, die 35-Stunden-Woche einführten. Dabei wussten alle, dass es zumindest eine in den Grundzügen einheitliche Wirtschaftspolitik braucht, um den Erfolg einer gemeinsamen Währung in den Bereich des Möglichen zu rücken.

Auch in der EU decken Politiker Probleme lieber mit Geld zu, anstatt sie zu lösen. Und von Anfang an war auch klar, dass auch bei dem als irreversibel bezeichneten “Projekt Euro” Deutschland die Rolle des Hauptzahlmeisters zukommt. Um dem deutschen Wähler und Steuerzahler wenigstens eine gewisse Sicherheit vorzugaukeln, wurde im so genannten “Stabilitätspakt” die Einhaltung ordnungspolitischer Tugenden beschworen. Doch das Papier erwies sich rasch als wertlos. Deutschland und Frankreich waren die Ersten, die die darin enthaltenen Kriterien verletzten und darum eine grosszügigere Auslegung verlangten. Der Damm war gebrochen.

Die Verantwortlichen hätten also die Risiken erkennen können und entsprechend handeln müssen. Doch stattdessen setzten sie sich über sämtliche Warnungen hinweg. Kohls schiefer Vergleich von einer EU, die sich wie ein Fahrrad ständig bewegen müsse, um nicht umzukippen, überzeugte. Sämtliche Warnungen erwiesen sich als Kassandrarufe, womit wir wieder bei Troja angelangt sind. Die Tochter des Königs Priamos hatte zwar Recht, wie auch Laokoon, der vor den Griechen sogar in dem Fall warnte, dass sie Geschenke bringen. Doch als man das realisierte, war es zu spät. Das erste von Barbara Tuchman geforderte Kriterium ist damit erfüllt.

Es gab Alternativen

Wie steht es um das Zweite? Gab es Alternativen zur Einführung des Euro? Selbstverständlich! Doch leider wird in der EU kaum je sachlich über die EU diskutiert. Alles ist gleich grundsätzlich, und wer nur schon kritische Fragen stellt, wird als Saboteur am grossen “Friedensprojekt” verunglimpft. Selbst die klügsten Köpfe können nicht mehr klar denken, wenn es um “Europa” geht. Als richtig gilt, was politisch korrekt ist. Da kann es durchaus vorkommen, dass eherne Grundsätze in ihr Gegenteil verkehrt und mit der gleichen Überzeugung zum Ausdruck gebracht werden. Ein Beispiel lieferte jüngst das deutsche Staatsoberhaupt Horst Köhler. Als Staatssekretär war er einer der Hauptverantwortlichen​ für die Währungsunion. Um den Deutschen das Wagnis schmackhaft zu machen, sagte er in einem Spiegel-Interview: “Wenn sich ein Land durch eigenes Verhalten hohe Defizite zulegt, dann ist weder die Gemeinschaft noch ein Mitgliedstaat verpflichtet, diesem Land zu helfen.” Und zur Bekräftigung fügte er hinzu: “Es wird nicht so sein, dass der Süden bei den sogenannten reichen Ländern abkassiert. Dann nämlich würde Europa auseinanderfallen.” Und auf die schon damals bekannte Griechenland-Problema​tik angesprochen, warb er für die Aufnahme des Mittelmehrlandes mit dem Argument: “Wir würden eine historische Chance vertun, wenn wir die vor den Kopf stossen würden, die sich deutsche Stabilitätsvorstellun​gen zu eigen machen.”

Heute fordert der gleiche Horst Köhler von der Bundesregierung finanzielle Hilfe für Griechenland. Es liege im eigenem Interesse einen Beitrag zur Stabilisierung leisten, heisst es plötzlich. Und freilich fehlt auch nicht das obligate Spekulanten-Bashing. Dabei machen sich diese nur seine schweren Fehler zunutze.

Am gescheitesten wäre es wohl gewesen, nichts zu tun und zuzuwarten. Man hätte ohne weiteres das europäische Währungssystem fortführen können, um den Mitgliedstaaten Zeit zu geben, die Wechselkursschwankung​en weiter zu reduzieren. Mit der Zeit hätte sich auf diese Weise sogar von selbst eine kohärente Wirtschaftspolitik entwickelt. Es bestand keine Notwendigkeit, sich durch Festlegung eines willkürlichen Zeitplans unter Druck zu setzen. Und insbesondere war es falsch, eine wirtschaftliche Frage, die man in guten Treuen bejahen konnte, rein politisch zu beantworten.

Gleich haufenweise Alternativen hätte es naturgemäss bei der Frage gegeben, welche Staaten in die Eurozone aufgenommen werden sollen. Wurden bis anhin noch die “Einheit Europas” und die Irreversibilität des Integrationsprozesses​ beschworen, redete Helmut Kohl plötzlich von einem “Europa der zwei Geschwindigkeiten”. Wer in welcher Geschwindigkeit weiterfahren durfte, wurde dann in einem Bericht der EU-Kommission festgehalten. Belgien, das die Maastrichter-Kriterie​n um Längen verfehlte, wurde die Teilnahme deshalb gestattet, weil die EU ihren Sitz in dem Land hat. Und Griechenland wollte man einfach nicht vor den Kopf stossen, obwohl es schon damals klare Anzeichen dafür gab, dass dessen Gesuch auf falschen Zahlen basierte. Doch anstatt von Betrug sprach man beschönigend von “kreativer Buchführung”. Eine strengere Selektion anhand klarer wirtschaftlicher Kriterien hätte zweifellos viel zur Verhinderung oder zumindest zur Verringerung der gegenwärtigen Krise beigetragen. Heute erscheint nicht einmal mehr der Gedanke, dass sich Deutschland vom Euro verabschieden könnte, abwegig. Auch das zweite Kriterium ist klar erfüllt.

“Europa” schadet dem Denkvermögen

Kommen wir damit zur Frage, ob der letztlich eingeschlagene Weg auf einem breit abgestützten Konsens beruhte. Auch dies ist zu bejahen. In kaum einer anderen Politdomäne arbeiten die Regierenden und die mit ihnen verbündeten Medien und Behörden so dogmatisch verblendet wie in der Europapolitik. Alleine schon die Frage zu stellen, ob die Kommission oder der Ministerrat auch immer richtig und klug handeln, gilt als ketzerisch. Was von Brüssel kommt, ist gut, weil es von Brüssel kommt. Und nationale Regierungen und Parlamente schämen sich nicht einmal dafür, dass sie bloss noch nachvollziehen.

Leider ist auch den Gerichten die Kraft abhanden gekommen, sich dieser Zersetzung der Vaterländer in den Weg zu stellen. Auch das deutsche Verfassungsgericht begnügte sich mit der Mahnung, es mit der Preisgabe der Souveränität nicht zu weit zu treiben. Die Karlsruher Richter werden auch die Milliardenzahlungen an Griechenland sanktionieren, obwohl das – zuvor ebenfalls von ihnen genehmigte – Maastrichter-Vertrags​werk genau solche Zahlungen verbietet. In der Europapolitik hält sich manch einer für einen kleinen Adenauer, bloss weil er heute das Gegenteil von dem predigt, was er noch gestern voller Überzeugung propagierte.

Die Krise Griechenlands und des Euros ist nicht nur einzelnen Personen anzulasten. Es liegen ihr zahlreiche Fehlentscheidungen auf verschiedenen Stufen und in vielen Gremien zugrunde. Es erweist sich nun als fatal, dass sich die Regierenden mit der Arroganz der Macht über sämtliche Einwände hinwegsetzten und Fakten schufen, von denen sie glaubten, sie seien irreversibel. Ihr Platz in den Geschichtsbüchern war ihnen wichtiger als das Wohl der Menschen Europas. Sie werden auch tatsächlich in die Geschichte eingehen. Als Verantwortliche für eine Torheit.

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Comments to: Die Euro-Torheit
  • September 3, 2011

    Für Herrn Zanettis ausgezeichneten Beitrag danke ich bestens.
    Leider werden die verantwortlichen Torenbuben noch zu deren
    Lebzeiten wahrscheinlich nicht gebührend zur Verantwortung
    gezogen; erst die spätere Geschichtsschreibung wird ihre
    Fehlleistungen notieren. Die helvetischen EU-philen
    Kleingeister profitieren natürlich von demselben Glück, um
    so mehr, als dass ihnen der Anschluss nicht gelingen wird.
    An den Schalthebeln haben wir einige Kryptanschliesser,
    d​ie sich ohne weiteres die Bezeichnung als fünfte Kolonne
    gefallen lassen müssen.

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  • April 17, 2012

    Grüezi Herr Gassmann, der Beitrag von KR Zanetti enthält eine Reihe von guten Aussagen. Er zeigt aber auch auf, dass die Lernfähigkeit vieler (sehr intelli-genter) Menschen, auch in hohen politischen Aemtern, beschränkt bis gar nicht vorhanden ist. Vieles was in der Euphorie des Neuen ebenfalls ausser acht gelassen wurde, jetzt in der Krise sich immer deutlicher manifestiert, spielt eine zwar emotionale, jedoch nicht zu unterschätzende Rolle. Die massiven kulturellen Unterschiede, die Leistungsbereitschaft​ in der Arbeitswelt, die Korruption in der Gesellschaft (Politik und Wirtschaft), der relativ large Umgang der Bürger mit Streiks und/oder zivilem Ungehorsam.

    In N-EU wird offen kommuniziert nicht mehr solidarisch zu sein, mit dem mediterranen “dolce far niente”. Die S-EU sollen weniger Siesta, aber mehr
    die ausdauernde Arbeit pflegen. In den Verwaltungen mehr One man show und weniger TEAM-work (Toll Ein Anderer Machts). Die mafiosen Strukturen einer langen Tradition folgend, lassen vielerorts die Anstrengungen des Staates, mehr Einnahmen über Steuern und Abgaben zu generieren, zum Nullsummen-Spiel verkommen.

    Ich glaube auch nicht, dass je einer zur Rechenschaft gezogen wird (werden kann). Unser “Freude herrscht” BR, einer der wenigen aus seiner Partei, der mit der Schweiz in die EU und mit der Armee in die Nato wollte und dafür von der UNO (Kofi Anan)mit einem “Schoggi-Job” belohnt wurde, geniesst heute sein grosszügiges Ruhegehalt als aBR. Er hat sogar die Nerven aBR CHB zum Rück-tritt aus seinen Parteiämtern aufzufordern.

    Unte​r seiner Aegide als Chef VBS wurde der Niedergang der einst weltweit geachteten schweizer Milizarmee eingeläutet. Soeben hat der CdA (KKdt Blattmann) in einem Gespräch, zum besten gegeben, dass derzeit noch 2 Kampf-brigaden à 10’000 AdA kriegstauglich eingesetzt werden können.

    Auch die höchsten Politiker werden in unserem Land nicht zur Verantwortung gezogen.

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  • November 6, 2019

    Exporte aus der Schweiz in die EU sind durch das Freihandelsabkommen von 1972 und die bilateralen Verträge geregelt. Diese bauen auf dem Freihandelsabkommen auf.

    Diese Abkommen decken etwa 96% aller Exporte ab.

    Von einer Gefährdung zu sprechen, scheint mir doch stark übertrieben.

    Mit​ freundlichem Gruss

    James Elsener

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