Ich verstehe nicht, dass man den nationalsozialistischen Muttertag für Gebärerinnen von Soldaten gedankenlos bis heute zelebriert – Jahr für Jahr.
Mutterkulte an den Iden des März (= 15. März) gab es bereits im Altertum in ganz Kleinasien – so für die Göttermutter Kybele und Rhea. In England wurde um 1644 berichtet: “Every Mid-Lent Sunday is a great day at Worcester, when all the children and grantchildren meet at the head and chief of the family and have a feast. They call it Mothering Day.” An diesem Sonntag (= Lätare = 30. März = 4. und letzter Sonntag der Fastenzeit) besuchten die auswärts lebenden Kinder die Eltern (= to go a mothering) und dankten der Mutter mit Geschenken. – In Thüringen (de) besuchten die Kinder die Eltern ebenfalls am 4. Sonntag der Fastenzeit. Ähnliche Traditionen sind aus der Champagne (fr) und aus Wallonien (be) bekannt.
1872 forderte die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Julia W. Howe in den USA einen Feiertag für die Mütter. Ihre Tochter, Ann Marie Reeves Jarvis, startete am 9. Mai 1907, dem zweiten Todestag der Mutter, einen Feldzug für die Einführung eines nationalen Muttertages. Die Kampagne hatte Erfolg: Präsident Wilson erklärte den zweiten Sonntag im Mai zum Ehrentag der Mütter. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Muttertag auch in Europa durch.
Neben dieser Feier gewann auch der Internationale Frauentag (8. März) an Boden. 1932 wurde der Frauentag jedoch im Deutschen Reich verboten. An die Stelle dieser Feier der Frauen trat 1933 der nationalsozialistische Muttertag – am 2. Sonntag im Mai, und er hat sich von Anfang an (!) bis heute auch in der Schweiz durchgesetzt. Gefeiert und geehrt wurden nur Frauen, die Kinder in die Welt setzten – als Gebärerinnen von Soldaten. Sie wurden nach der Anzahl der Kinder mit unterschiedlichen Mutterkreuzen geehrt (Bild oben) – mit dem sog. “Karnickelkreuz”.
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9. Juni 2021
Die Frauen hatten in der Weimarer Republik das Wahlrecht erhalten, welches sie in grosser Zahl auch ausübten – mehrheitlich konservativ. 1930 bis 1932 wählten sie zunehmend die NSDAP, weil sie weitere emanzipatorische Bestrebungen für die Frau mehrheitlich ablehnten. Die NSDAP verstand sich als Männerpartei. Bereits am 21. Januar 1921, zwei Jahre nach Erreichen des passiven Wahlrechts für Frauen, hatte die Partei beschlossen, dass Frauen weder Mitglieder der Parteiführung noch Mitglied eines leitenden Ausschusses werden könnten. Bei der Reichstagswahl im November 1933 war dann nur noch die männliche Einheitsliste der NSDAP erlaubt. Damit war das soeben erlangte passive Wahlrecht für Frauen bis 1945 faktisch aufgehoben.
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Kommentare anzeigen Hide commentsFeiern zur Ehre der Mütter gibt es seit der Antike, und sie wurden immer wieder zweckfremd instrumentalisiert – in der Antike, im Mittelalter, im amerikanischen Bürgerkrieg, in der Nazi- und der Nachkriegszeit. So zeichneten die Nazis fleissige Gebärerinnen von Kanonenfutter mit Mutterkreuzen aus; auch in der Schweiz sah niemand je diese unwürdige Zurschaustellung von Frauen als Anlass zum Protest, und so ist es bis heute geblieben. Dieser \”Muttertag\” gehört schon lange abgeschafft. Den Frauen dient nur der Frauentag, und den haben sie selbst eingeführt.
Seit Jahrzehnten feiert man diesen frauenverachtenden “Muttertag” – aber seit Jahrzehnten verhindert man die verfassungsmässige Gleichstellung der Frauen und setzt vor allem ihre lohnmässige Ausbeutung unbeirrt fort – von den tieferen Renten gar nicht zu reden. Ich plädiere deshalb hier wie jedes Jahr für die Abschaffung des im Geiste immer noch nationalsozialistischen Muttertags und für die Stärkung des Frauentags am 8. März. Sind Sie auch dafür?
\”«Muttertag – Ketten für Mama», heisst es in einer Onlinewerbung, und wem käme da nicht in den Sinn, was wir schon immer von diesem widersinnigen Festtag gehalten haben. Bei näherer Betrachtung zeigt sich hier allerdings nur ein ungelenker Umgang mit Binde- und Gedankenstrichen, denn es geht um selbstkreierte Muttertagsketten. Möge Mama die Fessel mit Würde tragen.\” (Woznews)
Tränengas, Gummischrot und neun Verhaftungen am sog. \”Muttertag\”: Das war der 8. Mai 2022. 12000 Mütter gingen gestern allein in Zürich auf die Strasse. Die Polizei nahm neun Frauen fest, die verdächtigt werden, Hauswände und Autos beschädigt zu haben.