Seit 12 Jahren beschäftige ich im Quartier Lernende und führe sie zum Lehrabschluss in zukunftsorientierten Berufsbildern. Damit – und auch als Vater – bin ich quasi Abnehmer des Anbieters «Volksschule». Wie die meisten KMUs beschäftige ich keine Personalprofis. Ich muss mich auf Schulzeugnisse verlassen können, verfasst von Lehrpersonen, welche die ihnen anvertrauten Jugendlichen besser einschätzen können als jeder ausgeklügelte Test. Letztlich ist niemandem gedient, wenn Lernende und Lehrstellen nicht zusammenpassen. Fast ein Viertel der Lehrverträge wird heute aber frühzeitig aufgelöst, rund zehn Prozent stehen am Schluss ganz ohne Ausbildungsabschluss da.
Lehrlingssuche unnötig erschwert
Die Auswahl geeigneter Jugendlicher fällt mir und vielen anderen Betrieben allerdings immer schwerer. Was läuft schief? Einige der Bildungsreformen der letzten Jahre scheinen zum Ziel gehabt zu haben, Kinder und Jugendliche davon abzuschirmen, dass im Leben nicht alle überall «gleich» sind. Einige der getroffenen Massnahmen führen zwangsläufig zu einer Nivellierung nach unten. Dazu vier Beispiele:
- Vielerorts, so auch am Zürichberg, werden die Jugendlichen der drei Oberstufenniveaus in gemeinsame Klassen gesteckt. Diese bewusst herbeigeführte Heterogenität wird dann im Schulbetrieb durch allerlei komplizierte Massnahmen wieder korrigiert. Wer aber Nati-Spieler zusammen mit 2. Liga-Spielern trainiert, wird keine gute Nationalmannschaft hinkriegen. Und auch keine gute 2. Liga-Mannschaft. Denn er trainiert auch die 2. Liga-Spieler nicht stufengerecht und demotiviert sie unnötig. Obwohl diese später noch aufsteigen könnten, denn die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems ist vorbildlich.
- Stark verhaltensauffällige oder lernschwache Kinder werden in Regelklassen «integriert». Und dort therapiert. Die Botschaft ist problematisch: Ich bin ein Sonderfall. Egal, wie sehr ich mich anstrenge und unterstützt werde, ich bin immer schwächer als meine «Peer Group», meine Schulfreunde. Das prägt. Ich kann gut verstehen, dass Eltern eines betroffenen Kindes eine andere Optik haben können – und auch ich kann als Vater einmal in diese Lage kommen. Es ist aber keinem Kind gedient, wenn man Tatsachen ausblendet und sich etwas in die eigene Tasche lügt. Zumal auch die anderen Kinder leiden. Unter weniger Aufmerksamkeit der Lehrperson. Und unter der Unruhe im Klassenzimmer, auch verursacht durch mehrere Lehrpersonen in einem Raum. Der Schulbetrieb wird so ungeheuer kompliziert und bürokratisch. Die frühere Einschulung akzentuiert dieses Problem. Viele Kinder haben schlicht «den Knopf noch nicht aufgemacht». Doch seien wir ehrlich: Auf ein Jahr kommt es im Leben wirklich nicht an.
- Hinzu kommt eine zunehmende Abneigung gegenüber unverblümten Schulnoten. Man macht Kindern und Eltern lieber so lange wie möglich etwas vor. Mit viel bildungstechnischem Fachvokabular versucht man trickreich zu kaschieren, dass einige Kinder schlicht in Schulklassen gesteckt werden, deren Lernziele sie nicht erreichen können. Irgendwann treten sie als junge Erwachsene aber aus dem geschützten Rahmen der Schule ins Berufsleben über. Und müssen dann überrascht feststellen, dass Leistung sehr wohl zählt, und dass es im richtigen Leben so etwas wie eine «Lernzielbefreiung» nicht gibt. Als Lehrmeister ist man ob dem Chaos von Abteilungen und Anforderungsstufen, die zudem je nach Schule variieren, heillos überfordert.
- Dass Lernende zwar ihren ökologischen Fussabdruck berechnen können, aber oft an Grundrechenoperationen und einfachen E-Mails scheitern, hilft auch nicht wirklich. Eine Rückbesinnung auf relevante Grundkompetenzen wäre hilfreich.
Druck aufs Gymnasium steigt
In der Folge steigt der Druck auf das Gymnasium. Wer möchte sein Kind schon in einer Art «Restgruppe» sehen? Und wer es nicht schafft, aber genügend Kleingeld hat, ebnet sich mit privatem Zusatzunterricht den Weg ins Gymnasium. Oder schickt sein Kind gleich auf eine Privatschule. Die schmerzhaft hohen Schulgelder tut man sich als Familie aber sicher nicht freiwillig an. Trotzdem liegt die Privatschulquote im Schulkreis Zürichberg bei 17.9 Prozent (mehr als jedes sechste Kind), in Schwamendingen dagegen bei lediglich 2.7 Prozent (jedes 37. Kind). Nicht, weil die Volksschule am Zürichberg schlechter ist – die allermeisten Lehrpersonen sind sehr engagiert. Sondern, weil sich hier mehr Eltern aus dem System «freikaufen» können. Das muss zu denken geben.
Steuern wir so nicht auf angloamerikanische Verhältnisse zu, in denen Herkunft und Geld über Bildung entscheiden? Die gutgemeinte schulische Integration droht zum eigentlichen Treiber einer Segregation zu werden. Wohlverstanden: Privatschulen sind eine wertvolle und unverzichtbare Ergänzung zur Volksschule. Wenn sie aber nötig sind, weil die Volksschule in den Augen vieler Eltern zu wenig fordert und fördert, läuft etwas schief.
Geld soll nicht über Bildung entscheiden
Das Hauptziel der Volksschule ist und bleibt Bildung. Die gesellschaftliche Integration ist ein erfreulicher Nebeneffekt, aber nicht deren raison d’être. Wenn wir das Hauptziel aus den Augen verlieren, fällt irgendwann auch dieser Nebeneffekt in sich zusammen. Die Volksschule ist aber eines der höchsten Güter, wenn es um Chancengleichheit geht. Wenn wir nicht mehr den Mut aufbringen, innerhalb der Volksschule nach Leistungsniveaus zu differenzieren und Leistungen klar zu benennen, gefährden wir sie. Das wäre ein immenser Schaden. Für die duale Berufsbildung, aber auch für unsere ganze Gesellschaft.
KMUs brauchen Jugendliche, die in der Schule stufengerecht gefordert wurden. Aber auch verständliche Leistungsausweise, die nicht alle Lehrstellensuchenden gleichmachen. Und Jugendliche, die nicht ans Gymnasium gehen, gehören nicht einfach in eine «Restgruppe» verbannt.
Personen haben auf diesen Beitrag kommentiert.
Kommentare anzeigen Hide commentsSo sehr ich Ihnen in Ihrem Anliegen zustimme, wage ich dennoch eine Korrektur bei den Lehrvertragsauflösungen. Die Statistik trügt, denn wenn z.B. eine Kauffrau nach dem ersten Jahr ungenügende Leistungen in der Berufsfachschule und/oder im Betrieb hat und die Lehre als Büroassistentin weiterführt, dann ist dies nur statistisch eine Lehrvertragsauflösung. Effektiv ist es eine geeignete Massnahme, um der jungen Dame einen ersten Berufsabschluss zu ermöglichen.
Völlig einverstanden. Meine Feststellung zielt darauf ab, dass Zeugnisse, die eine klare Sprache sprechen, dazu beitragen können, weniger solche Wechsel zu verursachen. Solche Wechsel im vorliegenden Ausmass sind volkswirtschaftlich nicht eben effizient.
Ja klar, volkswirtschaftlich sind sie nicht effizient und berufsbildnerisch sind sie kontraproduktiv. Alles Gute.
Sie weisen da in bestechender Weise auf die tatsächlichen Probleme unseres sich in einem schädlichen Trend befindenden Schulsystems hin, Herr Bourgeois.
Auch ihrer Schlussfolgerung: „Geld soll nicht über Bildung entscheiden“ ist vorbehaltlos zuzustimmen.
Was allerdings ernüchtert ist die Tatsache, dass sich sämtliche politischen Forderungen „für eine bessere Bildung“ jeweils ausschliesslich auf den Ruf nach „mehr Geld“ beschränken…
In der Tat. Statt die Stossrichtung unserer Bildungsreformen zu hinterfragen, wird ein untaugliches System mit zahllosen “Reparaturmassnahmen” am Leben erhalten.