1. Aussenpolitik

Gorbatschow wurde 1990 vom Westen über den Tisch gezogen

Die NATO:

Gegründet als west­li­ches Ver­tei­di­gungs­bünd​­nis gegen die glo­ba­len Welterobe­rungs­an­sp​rüche der ehe­ma­li­gen So­wje­tu­nion so­zia­lis­tisch- le­ni­nis­ti­scher Staa­ten hin­ter dem “ei­ser­nen Vor­hang”. Ich habe nie ganz be­grif­fen, wieso beim Fall der Mauer resp. dem Un­ter­gang der UDSSR samt ihrer so­zia­lis­ti­schen “Bru­der-­Staa­ten” – als der War­schauer Pakt als deren Mi­litär­bünd­nis auf­gelöst wor­den ist, nicht au­to­ma­tisch auch die NATO auf­gelöst wor­den ist. Der Grund der Exis­tenz­be­rech­ti­​gung der Nato war ja 1989/90 weg­ge­fal­len. Was da­nach aber wirk­lich ge­sch­ah, ken­nen vie­le nur aus der West­pres­se, und die ist ge­linde ge­sagt, be­kannt­lich nicht immer sehr ob­jek­tiv. Sel­ber alles hin­ter­fra­gen, das kos­tet zwar Zeit und Ener­gie, aber es lohnt sich im­mer, mit Sicherheit.

Hier ein historisches Dokument das den Westen nicht mit Ruhm bekleckert:

https://w​ww.youtube.com/watch?​v=dW3DWgMAwz0

Gem​einsam zogen sie Gorbatschow über den Tisch

History Reloaded

Den Kalten Krieg beenden: Michail Gorbatschow und George Bush unterzeichnen 1990 im Weissen Haus einen Vertrag.

Foto: Peter Turnley (Getty)

Auch über die Festtage sorgte Wladimir Putins Militärmaschine für Aufregung in westlichen Strategiestäben oder zumindest Medien: Bei Tiefseekabeln, die Europa mit Amerika verbinden, hatten die Amerikaner verdächtige «russische Aktivitäten» entdeckt. Derweil blieben die Cyber- und Propagandatricks der Russen ein Dauerthema. Und seit Russlands Jet-Kampf in Syrien, seit dem wenig diskreten Kleinkrieg in der Ukraine, seit der Annexion der Krim scheint allen ohnehin klar: Der Kreml ist ziemlich aggressiv.

Aber das Bild lässt sich umdrehen. Die Russen sehen sich selber als die bedrängte Seite – wenn denn ein Block notorisch expansiv auftritt, dann ist es der Westen, die Nato, die Amerikaner. Als typisches, klares und massgebliches Beispiel nennen Spitzenpolitiker wie Putin oder Aussenminister Sergei Lawrow gern den «Verrat von 1990». Die Geschichte geht so: Als es nach dem Fall der Mauer darum ging, Deutschland zu vereinen, gaben die Regierungen der USA wie der BRD im Kreml ein Versprechen ab: Die Nato bleibe, was sie ist. Man werde sich zurückhalten.

Tatsäch​lich hatte US-Aussenminister James Baker im Februar 1990 zu Kreml-Chef Michail Gorbatschow gesagt, der Westen würde um keinen Zoll nach Osten drängen, falls die Sowjetunion die Wiedervereinigung zulässt.

«Not one inch eastward»: Der Satz wurde später oft zitiert. Doch aus westlicher Sicht waren dies lediglich ein paar Gedanken in langen Verhandlungen. Am Ende wurde solch eine Beschränkung nirgends vertraglich festgezurrt. Sodass die Russen bald nur noch händeringend zusehen konnten, wie die Nato zur Osterweiterung ansetzte. Nach 1999 schlossen sich zwölf osteuropäische Staaten dem westlichen Militärbündnis an, und heute stehen US-Panzer gleich an der russischen Grenze, beispielsweise im Baltikum. Formal völlig korrekt.

«… nichts Derartiges wird geschehen»

Jetzt aber, kurz vor Weihnachten, kamen weitere Dokumente ans Licht, zusammengestellt vom National Security Archive der George Washington University. Und diese Papiere setzen andere Akzente. Sie lassen spüren, dass die westlichen Spitzenpolitiker keineswegs nur einige Andeutungen fallen liessen – ein paar Nebensätze, die bald wieder vom Verhandlungstisch fielen. Vielmehr machten sie der Kreml-Führung recht kategorisch klar, dass sich die Nato einschränken werde, wenn die Sowjetunion die Vereinigung von BRD und DDR gestatte.

Aussenmin​ister Hans-Dietrich Genscher hatte den Reigen in einer Rede in Tutzing eröffnet: Eine Ausdehnung des Nato-Territoriums nach Osten, «das heisst näher an die Grenzen der Sowjetunion», werde es nicht geben: Das verkündete er im Januar 1990. Danach äusserte James Baker seinen «Kein Zoll ostwärts»-Spruch nicht nur en passant – er wiederholte ihn mehrfach, so die neuen Dokumente.

Mit typähnlichen Andeutungen folgte dann Kanzler Helmut Kohl: «Wir denken, dass die Nato ihre Sphäre nicht ausweiten sollte», teilte er etwa Gorbatschow mit. Und ähnlich äusserten sich François Mitterand, Margaret Thatcher sowie später ihr Nachfolger, Premierminister John Major. Nach dessen Besuch im Kreml beschrieb der britische Botschafter die Nato-Sorgen von Verteidigungsminister​ Dmitri Jasow – und notierte dann: «Major stellt ihm gegenüber sicher, dass nichts Derartiges geschehen wird.» – «Major assures him that nothing of the sort will happen.»

«Wir denken, dass die Nato ihren Umfang nicht erweitern sollte»: Memorandum des Treffens von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow, Februar 1990.

Zusammen erzählen die Dokumente also eine neue Geschichte. Die Historiker der National Archives, die die Papiere vorletzte Woche herausgaben, kommen denn auch zu einem recht zweifelhaften Fazit: Da war mehr als nur eine Idee, mehr als nur ein Missverständnis, mehr als nur eine Nachlässigkeit der Russen. Eher wurden die Kreml-Männer, angeleitet von den Amerikanern, gezielt in einem falschen Glauben gewogen. Oder etwas undiplomatischer formuliert: Sie wurden über den Tisch gezogen.

Russische Ängste wurden bestätigt

Michail Gorbatschow spielte den Fall später selber hinunter, doch das hatte einen Grund: Seine Landsleute kreideten es ihm als schweren Fehler an, die Nato-Beschränkung nicht als Übereinkunft festgehalten zu haben. Aber dies ist auch nur ein oberflächlicher Punkt. Jeder Russe, jede Russin weiss, dass das Land wiederholt aus dem Westen attackiert wurde – ob durch die Polen 1605, die Schweden 1708, durch Napoleon 1812 oder gleich zweimal durch die Deutschen im letzten Jahrhundert. Indem sie eine Expansion der Nato nach Osten ausschlossen, besänftigten die Politiker um George H. W. Bush und Helmut Kohl diese Grundängste. Und indem ihre Nachfolger dann kalt darüber hinweggingen, bestätigte sich für Moskau, was man ohnehin geahnt hatte.

In der Geschichte gibt es Themen, die mit den Jahren nicht etwa verschwinden, sondern sich sogar verstärken. Und so hallt der «Verrat von 1990» heute diplomatisch lauter nach als in den ersten Jahren. Joshua Shifrinson, ein Sicherheitsexperte der Dartmouth University, zog aus dem Hin und Her eine logische Folgerung:

Es war ein Versprechen, das 1990 half, den Kalten Krieg zu beenden. Ein neues Versprechen zur Zurückhaltung – etwa in der Ukraine oder Georgien – böte vielleicht nochmals eine Chance, die Beziehungen zu Russland neu einzurenken.

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