1. Politik Aktuell

Herausforderungen im Schweizer Sozialsystem: AHV und IV

Die Schweizer Sozialsysteme stehen, vor allem aufgrund der beständig steigenden Ausgaben, immer wieder im Mittelpunk von politischen Diskussionen. Dieser Text gibt einen Überblick über die aktuelle Situation und beleuchtet die Zukunftsperspektiven der verschiedenen Sozialwerke.

Finanzielle Entwicklung

Die Gesamtausgaben für die soziale Sicherheit sind in den letzten Jahren massiv gestiegen, wie es Abbildung 1 veranschaulicht. 1990 wurden 46 Mrd. CHF aufgewendet. 15 Jahre später waren es bereits über 102 Mrd. CHF. was einen Anstieg um 121% bedeutet. Die Sozialausgabenquote (siehe Kasten) erhöht sich von 14% (1990) auf 22% (2006). Über ein Viertel der Bevölkerung bekommt eine AHV-Rente, je ca. 3-5% bekommen eine IV-Rente, Gelder aus der Arbeitslosenversicherung oder Sozialhilfe.


Abb. 1: Sozialausgaben der Schweiz, Quelle: BSV

Zwei Sozialwerke kurz erklärt:

AHV

Die AHV ist die 1. Obligatorische Säule der Altersvorsorge. Die Finanzierung wird durch ein Umlageverfahren sichergestellt. D.h. es wird das ausgegeben, was jährlich eingenommen wird, die Beiträge werden quasi „umgelegt“ (siehe Abbildung 2). Im Gegensatz dazu verwenden Pensionskassen das Kapitaldeckungsverfahren. Bei dieser Methode werden die Beiträge am Kapitalmarkt angelegt. Die Haupteinnahmen sind die Beiträge von Arbeitnehmer und Arbeitgeber (je 4.2% des Lohns), die Zuschüsse der öffentlichen Hand sowie die Zinsen aus dem AHV-Ausgleichsfonds (siehe Kasten). Zurzeit macht die AHV Gewinne, zudem konnten 2007 sieben Mrd. CHF aus dem Verkauf des Nationalbankgoldes der AHV überwiesen werden.

Invalidenversicherung (IV)

Die IV unterstützt teil- oder vollinvalide Personen. Derzeit sind 252‘321 Personen auf Unterstützung durch die IV angewiesen, was 5.2% der Schweizer Bevölkerung ausmacht. Die Zahl der Versicherten, welche aufgrund psychischer Erkrankungen invalid wurden, hat stark zugenommen. Ein Hauptgrund dafür sind grundlegende Veränderungen des Arbeitsmarktes, welche seit den 90er Jahren stattgefunden haben. Der Anteil psychisch belastender Arbeit im Dienstleistungssektor hat deutlich zugenommen, während die Beschäftigung in vielen Industriebereichen zunehmend automatisiert, sicherer und daher körperlich weniger belastend abläuft. Die Beiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer belaufen sich auf 0.7 Lohnprozente. Im Gegensatz zur AHV präsentiert sich die finanzielle Situation der IV weniger rosig. Im Jahr 2007 musste ein Verlust von 2 Mrd. CHF ausgewiesen werden, wodurch der gesamte Schuldenbetrag auf 10.9 Mrd. CHF anstieg.

Die zwei Seiten der Sozialversicherungen

Für die Gruppe der Bezüger von Sozialleistungen muss eine andere Gruppe, jene der Beitragszahlenden, aufkommen. Es ist nicht selten, dass jemand für die Finanzierung bezahlen muss, obwohl er nie im selben Umfang Leistungen erhalten wird. Um Missbräuche zu vermeiden, muss sichergestellt werden, dass die Leistungen nur dann genutzt werden, wenn ein nachweisbarer Anspruch darauf besteht. Daher muss es Anreize geben, die den ungerechtfertigten Bezug von Leistungen unattraktiv machen. So soll z.B. durch die Wiederaufnahme einer Teilzeitarbeit ein Mehreinkommen generiert werden können, welches deutlich höher ist als die dadurch entstehenden Leistungskürzungen aus Arbeitslosen- oder Invalidenversicherung.

Sanierung der IV

Seit den 90er Jahren ist die Zahl der IV-Bezüger stark angestiegen, was zu einem starken Ausgabenwachstum führte. Trotzdem wurden weder die Lohnbeiträge und die Zuschüsse der öffentlichen Hand erhöht, noch die Renten gesenkt. Die Folge ist ein zunehmendes Auseinanderdriften von Einnahmen und Ausgaben, wodurch der Schuldenberg rasch ansteigt. Um diese Problematik zu entschärfen, kann man entweder die Einnahmen erhöhen und/oder die Ausgaben senken.

Einnahmen erhöhen

Nach der 5. IV-Revision wurde vom Parlament eine Zusatzfinanzierung beschlossen, da die Massnahmen der Revision noch nicht genügten. Mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0.4% von Anfang 2010 bis Ende 2016 sollen pro Jahr 1.2 Mrd. CHF mehr eingenommen werden. Zusätzlich soll ein eigenständiger IV-Ausgleichsfonds geschaffen werden. Die Defizite werden somit nicht mehr durch den AHV-Ausgleichsfonds (siehe Kasten) gedeckt und quersubventioniert. Damit sollen die Risiken für die AHV reduziert werden. Der neu geschaffene Fonds der IV erhält zum Start 5 Mrd. CHF aus dem AHV-Ausgleichsfonds. Die Schaffung des eigenen Fonds soll dazu beitragen, dass die IV-Finanzen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Denn die IV wird zusätzlich durch die Zinsen, welche für die Schulden bezahlt werden müssen, belastet.

Ausgaben senken

Die Senkung der Ausgaben soll zusammen mit den gestiegenen Einnahmen ebenfalls dazu beitragen, dass die jährlichen Verluste kleiner werden. In der 5. IV-Revision wurde beschlossen, dass man eine Reduktion der Neurenten anstrebt, d.h. man will die Anzahl Personen reduzieren, die IV-Renten benötigen. Dies soll weiterhin mit dem Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ erreicht werden. Die Vermeidung von Neurenten soll unter anderem damit erreicht werden, dass bereits früher am Arbeitsplatz vorbeugend interveniert wird. Dies bedeutet, dass Anreize und Verpflichtungen geschaffen werden, damit Behinderte und Kranke länger im Arbeitsprozess verbleiben. Zudem wurden weitere Sparmassnahmen beschlossen, wie z.B. die Aufhebung von Zusatzrenten für Ehepartner eines Bezügers oder die Streichung von Karrierezuschlägen. Dadurch sollen jährlich 250 Mio. CHF eingespart werden. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein Teil dieser Ausgaben stattdessen über die Sozialhilfe oder die Ergänzungsleistungen anfallen werden.

Weitere mögliche Massnahmen

Die oben ausgeführten Sparmassnahmen reichen aber nicht aus, um die IV langfristig zu sanieren. Durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer kann zwar zusätzliches Geld generiert werden, doch an der Struktur des Problems ändert sich noch nichts. Rentenkürzungen führen oftmals nur dazu, dass die Kosten bei anderen Sozialversicherungen oder zuletzt bei der Sozialhilfe anfallen. Dies ist weder im Interesse der Steuerzahler noch der IV-Bezüger.

Hauptziel jeglicher Lösungen muss die Stabilisierung des Schuldenwachstums sein. Das Wachstum der jährlichen Ausgaben soll nicht höher ausfallen, als das durchschnittliche jährliche Wachstum der Einnahmen. D.h. Renten-Neuzugänge sollten etwa gleich gross sein wie die Zahl der Abgänge. Eine Senkung der Neurenten könnte neben der besseren Eingliederung am Arbeitsplatz durch folgende Massnahmen erreicht werden:

  • Die Reduktion von Missbräuchen im In- und Ausland auf ein Minimum. Allerdings kann nur geschätzt werden, wie gross die Einbussen durch den Missbrauch tatsächlich sind. Zudem würde eine Verfolgung des Missbrauchs wiederum Kosten verursachen (vgl. unser Text „IV-Missbrauch“).
  • Eine andere Möglichkeit ist eine neue, strengere Definition des Krankheitsbegriffs, der dann strikt umgesetzt wird. Die Trennung zwischen dem behandelnden Arzt und dem IV-Arzt geht in diese Richtung. Dadurch können Interessenkonflikte in Arzt-Patient-Beziehungen vermieden werden. Zudem hat der IV-Arzt die nötigen versicherungsmedizinischen Kenntnisse, um einen Anspruch auf eine Rente besser abklären zu können.

Düstere Zukunft für die AHV?

Im Zusammenhang mit der AHV wird oft darauf hingewiesen, dass unsere Gesellschaft immer älter wird. Bewahrheiten sich die demografische Szenarien (siehe Kasten), dann führen ihre Auswirkungen dazu, dass immer weniger arbeitende Personen die Rente eines Pensionärs finanzieren (Prognose für 2040: 2.2 Beitragszahlende auf 1 Rentner). Weil die AHV nach dem Umlageverfahren (siehe Abbildung 2) finanziert wird und die Ausgaben bzw. die Renten nicht einfach gekürzt und die Beiträge erhöht werden können, wird auch die AHV gemäss den demografischen Modellen längerfristig eine Finanzierungslücke aufweisen. Es besteht also ein Bedarf an zusätzlichen finanziellen Mitteln oder Einsparungen, um das Gleichgewicht zu halten.


Abb. 2: Umlageverfahren

Die zukünftige finanzielle Lage wird durch die Rahmenbedingungen und die interne Struktur der AHV beeinflusst. Zu den Rahmenbedingungen gehört die wirtschaftliche Entwicklung mit den Löhnen und der Höhe der Steuern. Massnahmen zur Vergrösserung der arbeitenden Generation (Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte) helfen die Einnahmen hoch zu halten. Was ebenfalls als äusserer Faktor bezeichnet werden kann, ist die Bevölkerungsentwicklung. Steigt die Zahl der Pensionäre und deren Lebenserwartung, so hat dies negative Konsequenzen auf die Ausgaben. Um dieses Problem zu entschärfen, werden die Erhöhung des Rentenalters oder die Reduktion der Maximalrente diskutiert.

Entsteht ein Ungleichgewicht in der Finanzierung, so müssen neue, zusätzliche Einnahmequellen gefunden werden. Mögliche Vorschläge zur Verbesserung der Finanzierungsseite sind zum Beispiel die Erhöhung der Lohnbeiträge oder die Anhebung der Mehrwertsteuer.

Die Politik kann bei der internen Ausgestaltung einen Einfluss ausüben. Allerdings kann bei den Rahmenbedingungen nur der Versuch unternommen werden, sie in eine gewünschte Richtung zu lenken.

Alternative Modelle

Gegen diese Darstellung der demografischen Probleme gibt es auch den Einwand, dass die Prognosen falsch sein können. Die grosse Mehrheit der Wissenschaftler geht aber davon aus, dass die Gesellschaft auch weiterhin älter wird, eine plötzliche Änderung des Trends kann aber nicht per se ausgeschlossen werden. Zudem können andere, schwer voraussehbare Faktoren wie z.B. die Einwanderung neue Einnahmen in Form von Beiträgen generieren. Man muss aber bedenken, dass dies später ebenfalls die Zahl der Renten erhöht.

Bei der Geburtenrate liegt eine zusätzliche Chance. Gelingt es, Kinder und Arbeit, beispielsweise durch Tagesschulen oder Kinderkrippen verträglicher zu machen, so können insbesondere Frauen dadurch zu grösseren Arbeitspensen motiviert werden. Wenn eine Frau neu im Arbeitsmarkt ein Einkommen generiert, sowie ihre Kinder fremdbetreuen lässt, dann entstehen zusätzliche AHV-Beiträge. Eine erhöhte Geburtenrate wäre also neben Einwanderung ein Mittel, um der demografischen Alterung entgegen zu wirken.

Für einige Experten ist die Produktivitäts- und damit die Lohnzunahme entscheidender als die demografische Entwicklung. Sie verweisen auf die Tatsache, dass heute weniger Arbeitnehmer mit ihren AHV-Beiträgen einem Pensionär die Rente finanzieren können als früher. Wenn die Produktivität auch in Zukunft wächst, so bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass immer weniger Arbeiter pro Rentner die Finanzierung sicherstellen.

Wer hat Recht?

Unter der Annahme, dass die demografischen Szenarien richtig sind, wird die AHV ohne Änderung in Zukunft Defizite schreiben. Drei generelle Ansatzpunkte dazu sind eine Erhöhung des Rentenalters, eine Reduktion der Renten oder eine Erhöhung der Beiträge. Dabei sehen einige Ökonomen vor allem die letzte Möglichkeit aufgrund der höheren Löhne als am besten verkraftbar, da es den Arbeitern weiterhin gleich viel Realeinkommen lässt. Letztlich ist es auch wichtig, wie erfolgreich es dem Staat und der Gesellschaft gelingt, die Rahmenbedingungen zu verändern. Schliesslich bleibt es gemäss Kritikern nicht in Stein gemeisselt, dass die Bevölkerungsentwicklung so verläuft, wie es die Szenarien prognostizieren.

Literaturverzeichnis

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Ory, G. (2005). Finanzierung der IV. Gefunden am 5. Nov. 2008 unter Link

Pro Komitee für AHV Initiative (2008). Die Demografie-Lüge. Gefunden am 7. Nov. 2008 unter Link

Rosalba, A. (2007). IV-Zusatzfinanzierung: Wo stehen wir? Soziale Sicherheit, 2007 (6). Gefunden am 14. Nov. 2008 unter Link

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20081201_Sozialsystem.pdf – PDF

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