Ursprünglich ist die Volks­i­ni­tia­tive als Op­po­si­ti­ons­in­st​​​ru­ment der Bür­ger gegen die Eli­ten ge­schaf­fen wor­den. Ihre ori­ginäre Funk­tion liegt dar­in, Min­der­hei­ten das Aus­lö­sen von Ver­än­de­run­gen ge­genü­ber dem Sta­tus quo zu er­mög­li­chen, wel­che das re­prä­sen­ta­tive Po­li­tik­sys­tem nicht her­vor­bringt. Die Kri­tik am In­stru­ment Volks­i­ni­tia­tive ist nicht neu, aber sie hat sich in den letz­ten Jah­ren in­ten­si­viert und setzt oft genau an jenem Punkt an: Die Volks­i­ni­tia­tive er­fülle nicht mehr ihre ur­sprüng­li­che Funk­ti­on.

Auf­gru​​nd der ge­stie­ge­nen An­zahl Lan­cie­run­gen ist der Be­griff «I­ni­tia­ti­ven­flut​​​» ge­prägt wor­den; die In­itia­tive wird als ü­ber­nutzt wahr­ge­nom­men, der zu­sätz­li­che Auf­wand ü­ber­laste das po­li­ti­sche Sys­tem. Die eben­falls ge­stie­gene An­nah­me­quote sowie pro­ble­ma­ti­sche In­halte be­züg­lich Völ­ker­recht haben zudem zu ver­stärk­ten Schwie­rig­kei­ten bei der Um­set­zung ge­führt. Von ver­schie­de­ner Seite wird des­halb dar­auf hin­ge­wie­sen, dass sich die Nut­zung der di­rek­ten De­mo­kra­tie in einem Wan­del be­fin­de, und kri­ti­siert, die Volks­i­ni­tia­tive werde ver­mehrt als Wahl­kampf­hel­fe­rin​​​ und zur Mo­bi­li­sie­rung von Grup­pie­run­gen und The­men ein­ge­setzt, an­statt der För­de­rung von Min­der­heits­an­lie­​​​gen zu die­nen. In einer dem­nächst er­schei­nen­den Stu­die ist diese weit­ver­brei­tete An­nahme für den Zeit­raum der letz­ten dreis­sig Jahre an­hand aus­ge­wähl­ter In­di­ka­to­ren sys­te­ma­tisch ü­ber­prüft wor­den. Der vor­lie­gende Bei­trag fasst die wich­tigs­ten Er­geb­nisse zu­sam­men. Vier Grund­funk­tio­nen Gemäss der weit­ver­brei­te­ten Ty­po­lo­gie des Ber­ner Po­li­to­lo­gen Wolf Lin­der er­füllt die Volks­i­ni­tia­tive im po­li­ti­schen Sys­tem der Schweiz vier Grund­funk­tio­nen.

S​​ie dient ers­tens dazu, po­li­ti­sche For­de­run­gen aus der Be­völ­ke­rung auch gegen den Wil­len der Behör­den in die Rechts­ord­nung zu tra­gen (Ven­til­funk­tion); zwei­tens, durch ihren Druck die Behör­den zu einem Ent­ge­gen­kom­men in der Rechts­set­zung zu brin­gen (Ver­hand­lungs­pfan­​​​d); drit­tens, neue The­men und Ten­den­zen auf die po­li­ti­sche Agenda zu set­zen (Ka­ta­ly­sa­tor­funk​​​­tion); und vier­tens, die Ur­he­ber­schaft der In­itia­tive und ihre po­ten­zi­el­len Un­ter­stüt­zer zu mo­bi­li­sie­ren (Mo­bi­li­sie­rungs­f​​​unk­tion). So­wohl der An­stieg der An­zahl lan­cier­ter Volks­be­geh­ren als auch die um­fas­sen­den Ver­än­de­run­gen im Par­tei­en­sys­tem der Schweiz seit den 1990er Jah­ren legen die Ver­mu­tung nahe, dass sich bei der Volks­i­ni­tia­tive ein Funk­ti­ons­wan­del voll­zo­gen hat, durch den sich die In­itia­tive von einem In­stru­ment zur Be­ein­flus­sung der Rechts­set­zung ver­mehrt zu einem In­stru­ment der The­ma­ti­sie­rung be­stimm­ter An­lie­gen und der Selbstinsze­nie­rung von po­li­ti­schen Ak­teu­ren trans­for­miert hat. Die er­wähnte Stu­die un­ter­sucht für die letz­ten drei Jahr­zehn­te, in­wie­fern sich die An­teile der vier Grund­funk­tio­nen an allen zu­stande ge­kom­me­nen In­itia­ti­ven ver­än­dert ha­ben.

Die Fak­ten ma­chen dabei deut­lich, dass in den letz­ten Jahr­zehn­ten kein ein­deu­ti­ger Trend exis­tiert: Bei kei­ner der vier Funk­tio­nen hat der An­teil an der Ge­samt­zahl der In­itia­ti­ven über die Zeit ste­tig zu- oder ab­ge­nom­men. Die An­zahl an­ge­nom­me­ner In­itia­ti­ven mit Ven­til­funk­tion ist mit bloss zwölf in dreis­sig Jah­ren zwar re­la­tiv ge­ring. Ihr An­teil hat aber über den ge­sam­ten Zeit­raum nicht ab­ge­nom­men. Während der An­teil der Ver­hand­lungs­pfan­d​​​-­Funk­tion über die Zeit zu- und wie­der ab­nimmt, ver­hält sich der An­teil der Ka­ta­ly­sa­tor­funk­​​​tion na­hezu ge­gen­läu­fig. Auch bei der Mo­bi­li­sie­rungs­fu​​​nk­tion ist über die letz­ten Jahr­zehnte nicht die er­war­tete Zu­nahme fest­zu­stel­len. Letz­te­res ist dar­auf zurück­zu­führen, dass die rot-­grü­nen Par­teien schon in den 1980er und den 1990er Jah­ren im Zuge der Um­welt­de­batte und vor dem Hin­ter­grund der De­re­gu­lie­rungs­vo​​​r­la­gen der Bür­ger­li­chen zahl­rei­che In­itia­ti­ven zur Mo­bi­li­sie­rung ihrer An­hän­ger lan­ciert ha­ben; für die Rechts­aus­sen­par­te​​​ien wie die Na­tio­nale Ak­tion (später Schwei­zer De­mo­kra­ten) gilt dies be­reits für die 1970er Jah­re.

SVP als Geg­ne­rin von In­itia­ti­ven Die Häu­fung von In­itia­ti­ven, die von Par­teien und Po­li­ti­kern lan­ciert wor­den sind, fand damit vor allem in den frühen 1970er Jah­ren statt. Da­nach blieb ihre An­zahl ver­gleichs­weise sta­bil. Pi­kan­ter­weise war es nie­mand an­de­res als die SVP, die sich im Mai 1975 in einer Pres­se­mit­tei­lung be­klag­te, dass die Rechts­aus­sen­par­te​​​ien mit ihren «Ü­ber­frem­dungs­-I­​​​ni­tia­ti­ven» gegen die bun­des­rät­li­che Aus­län­der­po­li­tik​​​ einen fort­währen­den Wahl­kampf be­trei­ben, um ihre ei­ge­nen An­hän­ger zu mo­bi­li­sie­ren: «A­ber was soll’s: Die In­itia­ti­ven der Na­tio­na­len Ak­tion haben sich noch nie da­durch aus­ge­zeich­net, be­son­ders gut durch­dacht zu sein. Haupt­sa­che, man hat einen Wahl­schla­ger und kann seine ei­ge­nen Leute durch das Sam­meln von Un­ter­schrif­ten be­schäf­ti­gen und sie so noch ei­ni­ger­mas­sen zu­sam­men­hal­ten. In­itia­ti­ven als Be­schäf­ti­gungs­the​​​­ra­pie – so weit sind wir in un­se­rer De­mo­kra­tie!» Die Zei­ten haben sich geän­dert, das Prin­zip nicht. Heute wird die­ser Vor­wurf be­kannt­lich der SVP sel­ber ge­macht, wobei es zu dif­fe­ren­zie­ren gilt:

Auch wenn der re­la­tive An­teil der «­Mo­bi­li­sie­rungs­​​​-I­ni­tia­ti­ven» im Ver­hält­nis zu den an­de­ren In­itia­tiv­ty­pen seit den 1980er Jah­ren nicht zu­ge­nom­men hat, lässt sich gleich­zei­tig eine stei­gende At­trak­ti­vität des Volks­rechts für Par­teien aus­ser­halb des rech­ten Spek­trums be­ob­ach­ten. Ende der 1980er Jahre haben neben der Rechts­aus­sen­par­te​​​i Na­tio­nale Ak­tion vor allem die SP und die Grü­nen ei­gene In­itia­ti­ven lan­ciert. In den 1990er Jah­ren war es dann ins­be­son­dere die SVP, ab den 2000er Jah­ren zu­sätz­lich Par­teien aus dem bür­ger­li­chen (Mit­te-)La­ger wie die FDP («Büro­kra­tie-­Stopp​​​»), die CVP («Fa­mi­lie­nini­tia­​​​ti­ve») und die GLP («­Ener­gie- statt Mehr­wert­steu­er»), zudem auch Jung­par­teien wie die Juso (Min­dest­lohn- und 1:12-­Lohn-I­ni­tia­t​​​i­ve), die sich einen Mo­bi­li­sie­rungs­-­​​​Schub im ei­ge­nen Lager er­hoff­ten. Mit an­de­ren Wor­ten: Zwar hat über die Zeit keine Stär­kung der Wahl­mo­bi­li­sie­run​​​gs­-­Funk­tion im Ver­gleich zu den an­de­ren Funk­tio­nen statt­ge­fun­den. Je­doch stellt die Mo­bi­li­sie­rung durch Volks­i­ni­tia­ti­ven​​​ heute nicht mehr nur bei den Par­teien am lin­ken und rech­ten Rand des po­li­ti­schen Spek­trums, son­dern bei allen Par­teien ein Ele­ment in ihrer Wahl­kampf­stra­te­gi​​​e dar. Eine Aus­nahme bil­det die BDP, die heute in vie­ler­lei Hin­sicht der SVP der 1970er Jahre gleicht. Dass die Par­teien nach wie vor nur einen re­la­tiv klei­nen Teil aller In­itia­ti­ven lan­cie­ren, zeigt ein Blick auf die In­iti­an­ten der letz­ten drei Jahr­zehn­te. So wer­den heute die In­itia­ti­ven noch mehr als in frühe­ren Jah­ren von breit ab­ge­stütz­ten Ad-hoc-­Ko­mi­tees er­grif­fen, es fol­gen Spit­zen­ver­bände der Wirt­schaft und der Ge­werk­schaf­ten. Mit deut­li­chem Ab­stand fol­gen erst an drit­ter und vier­ter Stelle un­ge­fähr gleich­auf die Par­teien und die so­zia­len Be­we­gun­gen. Mehr Ge­las­sen­heit ist ge­fragt Ins­ge­samt lässt sich fest­hal­ten, dass der jüngst von po­li­ti­schen Be­ob­ach­tern oft pos­tu­lierte Wan­del der In­itia­tive vom Ven­til für nicht berück­sich­tigte Min­der­hei­ten zum in­sze­nier­ten Agen­da­set­ting- und Wahl­kampf-­In­stru­m​​​ent der Par­teien den em­pi­ri­schen Fak­ten nicht stand­hält.

Zwar wird die Volks­i­ni­tia­tive heute von na­hezu allen Par­teien zur Wäh­lermo­bi­li­sie­r​​​ung ge­nutzt. Der re­la­tive An­teil der Mo­bi­li­sie­rungs­fu​​​nk­tion hat aber im Ver­laufe der letz­ten Jahr­zehnte im Ver­gleich zu den an­de­ren In­itia­tiv­funk­tio­​​​nen nicht zu­ge­nom­men. Die­ser Be­fund mahnt dazu, die ak­tu­elle Dis­kus­sion über die Rol­le, die Nut­zung und Be­schrän­kung der di­rek­ten De­mo­kra­tie im po­li­ti­schen Sys­tem der Schweiz mit etwas mehr Di­stanz und Ge­las­sen­heit zu be­trach­ten.

(C) Quelle Prof. Dr. Adrian Vatter

Personen haben auf diesen Beitrag kommentiert.
Kommentare anzeigen Hide comments
Comments to: Mehr Gelassenheit

Kommentar schreiben

Neuste Artikel

  1. Verkehr
Gratis-OeV für Kinder und Jugendliche? GLP-Grossrat H.P. Budmiger schlägt Gratis-OeV für Kinder und Jugendliche im Kanton Aargau vor. Der Kanton Genf hat dies bereits umgesetzt. Was ist davon zu halten? Wenn man die immer lascher werdenden Billettkontrollen im OeV in Betracht zieht, kann es nicht verwundern, dass Politiker:innen auf solche Ideen kommen. Insbesondere die agilen Jugendlichen sind heute schon in grosser Versuchung, für ihre meist kurzen OV-Strecken schwarz zu fahren. Offenbar sind die Kontrollkosten höher als die Einnahmenausfälle wegen Schwarzfahrens. Auch wenn man an die vielen abenteuerlich velofahrenden Jugendlichen denkt, wäre man froh, sie im sicheren OeV unterwegs zu sehen. Allerdings wäre der Verzicht aufs Gehen oder Velofahren ein gesundheitlicher Nachteil.

Bleiben Sie informiert

Neuste Diskussionen

Willkommen bei Vimentis
Werden auch Sie Mitglied der grössten Schweizer Politik Community mit mehr als 200'000 Mitgliedern
Tretten Sie Vimentis bei

Mit der Registierung stimmst du unseren Blogrichtlinien zu