1. Sozialpolitik & Sozialsysteme

Perpetuum Mobile: die Schildbürger schaffen das Unmögliche

Wer eine Rente der Schwei­ze­ri­schen In­va­li­den­ver­si­c​​​​​​​he­rung (IV) be­zieht, wird dafür bei­wei­tem nicht nur be­mit­lei­det. Nein, in der Neidgesellschaft,​​​​​​​ die die Schwei­zer Ge­sell­schaft bis­wei­len eben lei­der auch typischerweise i​​​​​​​st, wer­den IV-Rent­ne­rin­nen und -Rent­ner dafür, ei­gent­lich un­vor­stell­bar, durch­aus auch mal – beneidet.

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Damit haben Menschen mit Erwerbsbeeinträchtigu​​​​​​​ng in der Schweiz ein paar Zwischenmenschli​​​​​​​che Probleme, deren Ursache meist nicht offen auf den Tisch gelegt wird:

  • Unausgespro​c​​​​​​hene Vorwürfe und dergleichen im privaten Umfeld wie auch am Arbeitsplatz (ja, auch Menschen mit IV-Rente sind teils noch arbeitstätig) sind der beste Nährboden, den man Paranoia bieten kann.
  • Nicht minder zerstörend wirkt Ausgrenzung, die unausgesprochen darauf beruht, dass jemand überhaupt IV-Rente bezieht (der infantile “Pfui-Gaggi”-Effekt sozusagen).
  • Ebenfalls​​​​​​​ unschön ist es, wenn bei unsichtbaren, das heißt psychischen Beeinträchtigungen unterschwellig Mutmassungen über den Grund der IV-Berentung in der Luft liegen, spürbar möglicherweise unvorteilhafte Mutmassungen kursieren – eine anspruchsvolle Kommunikationsaufgabe​​​​​​​, die sich da der Rentnerin oder dem Rentner stellt; vielleicht könnte es da vorzuziehen scheinen, als “scheininvalid” zu gelten.
  • Wenig schmeichelhaft sind auch Begegnungen mit Menschen, die aus einer IV-Berentung den Anspruch (oder die Notwendigkeit) einer grösseren oder kleineren Bevormundung herleiten und sich entsprechend verhalten. Spricht man solche Menschen höflich darauf an, bekommt man beispielsweise zu hören: “Aber du hast doch eine IV…?”, wobei in der Regel implizit gemeint ist, man lebe auf Kosten anderer und habe sich nur schon deshalb in persönliche Angelegenheiten dreinreden zu lassen.
  • In der Schweiz mit ihrem sehr basisdemokratischen (oder vielleicht inzwischen eher mobokratischen) politischen System, ist jede Bürgerin eine kleine Königin, jeder Bürger ein kleiner König: die Schweizers sind sich das Mitreden gewohnt! Sie geben traditionell ihren Senf zu allem und jedem dazu, selbst bei Einbürgerungsgesuchen​​​​​​​ redet noch mancherorts in der Schweiz die Gemeindeversammlung der Bürgerinnen und Bürger mit, was immer wieder zur Ablehnung von Einbürgerungsgesuchen​​​​​​​ unter absurdesten und teils auch persönlichkeitsverlet​​​​​​​zenden Begründungen führt. Entsprechendes haben auch IV-Rentnerinnen und -Renter in der Schweiz zu gewärtigen: so kann es schon mal sein, dass jemand geradezu inquisitorisch wissen will, warum genau eine IV-Berentung verfügt wurde. Dabei geht es weniger um Mitgefühl, weniger darum zu wissen, wie die Beeinträchtigung am besten zu berücksichtigen ist. Es geht viel mehr um quasi-völkische Kontr​​​​​​​olle, um Prüfung, ob die Berentung denn auch wirklich berechtigt sei, nach ihren persönlichen Massstäben freilich. Eine Art Belästigung.
  • Sadisten​​​​​​​, Faschisten, andere politische Querschläger und Quälgeister, die ihren Neid weder rechtsphilosophisch noch politisch noch aufgrund einer substanziellen Selbstanalyse ihrer Persönlichkeit je aufgearbeitet hätten oder wenigstens klar begründet darlegen können, geschweige denn ihre eigenen unterbewussten und evolutionsbiologisch​​​​​​​en Motive auch nur ansatzweise verstanden hätten, haben in der Schweiz ihre erniedrigenden Auftritte leider ungeschoren. Dies einerseits hinter verschlossenen Türen, aber teils auch ungeniert öffentlich (s. z.B. SVP-Nationalrat a.D. Toni Bortoluzzi, Kanton Zürich, et al., politische Kampagne der SVP gegen “Scheininvalide” etc.).
  • Zwar haben sie kein Mitspracherecht bei den Entscheiden der Experten der Sozialversicherung (ausgenommen ihre Orks an den Gerichten, die als Richterinnen und Richter ohne jede mediznische oder psychologische Ausbildung, lediglich eindimensionales Jurastudium im Rucksack, immer wieder Entscheide der medizinischen Experten kippen). Aber das hindert rechten Abschaum natürlich nicht, ihre Blockwartmentali​​​​​​​tät gegenüber IV-Rentnerinnen und -Rentnern trotzdem bei jeder Gelegenheit zum Vorschein treten zu lassen, öffentlich wie privat.
  • Rechte Hetze allgemein gegen Benachteiligte, die recht eigentlich als Pogrom zu bezeichnen ist, birgt zudem die Gefahr in sich, dass IV-Rentnerinnen und -Renter Ziel werden für Belästigung, Stalking, dass sie tyrannisiert werden von Rechtsbürgerlichen* und anderen Querschlägern, die durch die öffentliche Hetze angestiftet auf eigene Faust, sozusagen “eigenverantwortlich”​​​​​​​ für Ordnung sorgen zu dürfen meinen.
  • Rentnerinnen und Rentner wiederum müssen nicht zuletzt um ihre Privatsphäre bangen: zu befürchten ist doch, sie würden im Sog dieses Pogroms von renitenten Rechtsbürgerlichen auf eigene Faust mit dem Ziel bespitzelt, ihnen die Rente abzuerkennen oder zu kürzen oder sie für eine politische Hetzkampagne zu missbrauchen. Auch all dies Humus, auf dem Paranoia-Pilze bestens gedeihen.
Zusammen​g​​​​​​efasst: in der Schweiz dürften es IV-Rentnerinnen und -Rentner gesellschaftlich schwer haben. Das ist aber nichts Neues. Bekannt ist dies spätestens seit der Kampagne des Bundesamts für Sozialversicherungen im Jahr 2009, mit dem die Gesellschaft für die Bedürfnisse Beeinträchtigter sensibilisiert werden sollte (siehe Bild: “Behinderte liegen uns nur auf der Tasche”, 2009, Saatchi&Saatchi/BSV).​​​​​​​
Beeinträcht​i​g​t​e​ Menschen sind in der Schweiz zwischenmenschlichen Problemen ausgesetzt, die zermürbend, ja zerstörend wirken. Die psychische Gewalt, der Druck, denen sie – politisch vor allem von rechts – ausgesetzt sind, sich rasch möglichst wieder mit einer Arbeit in die Gesellschaft zu integrieren, ist nicht nur inhuman sondern klar auch kontraproduktiv.
Im​​​​​​​ Milieu solch ökonomischer und psychischer Gewalt sollen sie sich möglichst erholen und sich mit einer Arbeitstätigkeit nachhaltig wieder “in die Gesellschaft integrieren”? In eine Gesellschaft, in der ihnen der IV-Stempel noch anhaften wird, wenn sie längst wieder im ersten Arbeitsmarkt angestellt sind? Einfach weil die “Invalidität” – in dieser Gesellschaft fast gleich einer Vorstrafe! – auf ewig das CV ziert?
Quintesse​​​​​​​nz
Wenigstens​ einen “Geniestreich” liefern unsere Schweizer Schildbürger mit ihrem Neid auf IV-Rentnerinnen und -Rentner: das Perpetuum Mobile, das wirklich funktioniert. Denn wer in der Schweiz erst einmal aufgrund von Paranoia eine IV-Berentung erhält, egal wodurch diese ursprünglich verursacht wurde, sei es Polizeigewalt, sei es Diskriminierung, hat diese im Milieu der Schweizer Neidgesellschaft unbefristet auf sicher (die Schweizer Neidgesellschaft tut den Rest, indem sie Paranoia bei IV-Rentnerinnen und -Rentnern fortwährend nährt).

* Auf den ersten Blick könnte man bei Personen, die IV-Rentnerinnen und -Rentner diskriminieren, vielleicht vor allem politisch-gesellschaf​​​​​​​tlich rechtsbürgerliches Milieu als Hintergrgund vermuten. Gut möglich, dass unter Rechtsbürgerlichen in Verbindung mit ihrer politisch motivierten Ablehnung des schweizerischen Sozialversicherungssy​​​​​​​stems gegenüber IV-Rentnerinnen und -Rentnern auch viel öfter zwischenmenschlich Missgunst zu Tage tritt beziehungsweise ihre antisozial bedingte, grundsätzlich missgünstige Einstellung anderen Menschen gegenüber konsequent in ihrer politischen Haltung und der darin begründeten Ablehnung des Sozialwesens manifestiert. Aber letztlich hätten, theoretisch zumindest, rein politische Werte, die unabhängig von niederen persönlichen Gefühlen eines Menschen eine politische Haltung ausmachen, keinen Einfluss auf zwischenmenschliches Verhalten. Politische Werte sind somit auch nicht grundsätzlich verantwortlich für die charakterlich begründete Fehlhaltung der Missgunst. Schon gar nicht für Missgunst, die auf Animosität beruht und damit nicht allgemein gegenüber IV-Rentnerinnen und -Rentnern sondern speziell gegenüber der oder dem Betreffenden besteht. Missgunst kann somit durchaus bei Personen festzustellen sein, die zwar einen sozialen politisch-gesellschaf​​​​​​​tlichen Hintergrund haben, aber zwischenmenschlich zum Beispiel aus charakterlicher Disposition heraus trotzdem noch zu Missgunst neigen – wenn vielleicht auch nicht allgemein IV-Rentnerinnen und -Rentnern gegenüber oder dies nur hinter vorgehaltener Hand, dann vielleicht aus subjektiver Animosität heraus doch einer bestimmten Rentnerin oder einem bestimmten Rentner gegenüber.

Copyri​​​​​ght © Christiane Natiez (Schweiz). Hinweis: Dieser Artikel enthält einen Witz, dessen Verständnis Fachwissen aus Medizin (Psychiatrie) und Physik (Mechanik) erfordert.

PS: Die Teaser-Kampagne 2009 von Saatchi&Saatchi im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherung wollte ich zwar schon lange kommentieren, aber gut Ding will bekanntlich Weile haben.

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Comments to: Perpetuum Mobile: die Schildbürger schaffen das Unmögliche
  • Dezember 17, 2017

    Herr Natiéz,
    Was im Artikel aufgezählt wird, kann vorkommen. Es ist aber nicht der Alltag. Die Invalidenversicherung​ ist eine Errungenschaft der Eidgenossenschaft. Früher zahlte man die Lohnprozente an die “AHV-EO-IV” für die Alters-und Hinterbliebenen-Versi​cherung, die Ersatzordnung und die Invalidenversicherung​. Die Gelder der IV kommen vielen zu gute. Sonderschulung für Sinnesbehinderte (Blindenschule, Gehörlosenschule und deren Berufsbildung), geistig Behinderte Erwachsene, Eingliederungswerkstä​tten und Wohnheime für Erwachsene geistig behinderte. Dann gibt es IV-Renten für Menschen, welche nach Unfällen oder Hirntraumas trotz medizinischer Hilfe nicht mehr auf die frühere berufliche Leistungsfähigkeit kommen, oder z.B. nach einem Hirnschlag in gar keinem Beruf mehr arbeiten können.
    Die IV ist ein Solidaritätswerk wie die AHV. Wenn jetzt gerade darüber viel geschrieben wird, dass es auch Leute gibt, welche dieses Solidaritätswerk zu übernutzen suchen, hat das nicht mit Menge sondern mit medialer Aufmachung etwas zu tun. Und schon haben einige Nationalräte ein Thema im Parlament. Die Überwachung aller Versicherungsnehmer mit Detektiven und Technik! Keiner denkt daran, dass er schon morgen froh sein könnte, dass es diese IV gibt. Ein Skiunfall mit Querschnittlähmung – überfahren werden auf dem Zebrastreifen – Embolie im Hirn – und schon ist alles im Leben anders.

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    • Dezember 13, 2018

      “Im übrigen ist es das Recht vom Steuerzahler, zu wissen, dass kein Schindluder betrieben wird und das Geld sachgemäss verwendet wird.”

      Es geht um die Sozialversicherungen (AHV, ALV, IV), Herr Eberhart. Diese werden aus den Prämien der Versicherten finanziert, nicht durch die Steuern Zahlenden.

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    • Juli 19, 2021

      Die Behauptung, Herr Müller, keiner denke daran, dass er selber Froh sein könnte dass es eine IV gibt, ist widersinnig. Das Gegenteil ist wahr. Die Überwachung von Betrügern entspringt vielmehr dem Wunsch, ebendiese IV vor der Ausplünderung zu schützen, damit diese noch funktionieren würde, falls man dann selber froh um deren Existenz sein müsste.

      Auch die idiotische Floskel, alle Versicherungsnehmer würden mit Detektiven und Technik überwacht ist völlig wahrheitswidrig. Wissen muss man, dass es zum Beispiel im letzten Jahr 219‘000 laufende IV-Renten gab.
      Pro Jahr werden höchstens zwei- bis dreihundert Fälle tatsächlich überwacht und dabei werden etwa hundertachzig Millionen Franken aufgedeckt, die zu Unrecht bezogen werden. Dies entspricht 470 ganzen Renten.

      https://ww​w.nzz.ch/schweiz/inva​lidenversicherung-zah​l-der-iv-betrugsfaell​e-steigt-ld.1296027

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    • Juli 19, 2021

      Bereits heute werden leidlich dann Detektive eingesetzt, wenn Verdachtsmomente vorliegen.

      Im übrigen ist es das Recht vom Steuerzahler, zu wissen, dass kein Schindluder betrieben wird und das Geld sachgemäss verwendet wird.

      Dazu gehören Überprüfungen und Kontrollen, ob Arbeitsunfähigkeit vorliegt.

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