1. Gesellschaft

Schweiz: Achtung die Preussen & die Bayern kommen

Wie die Deut­schen die Schweiz umpflügen

Noch nie wurde die Schweiz von den Zuwanderern aus dem nördlichen Nachbarland so massiv verändert – politisch, medial und kulturell.

Nichts gegen die Deutschen. Sie sind offen, kontaktfreudig und zuverlässig. Sie haben ihr Land aus Trümmern wieder zum Blühen gebracht, eine Wiedervereinigung gestemmt und einen stabilen, demokratischen Rechtsstaat geschaffen. Doch die Deutschen haben durch ihre Vergangenheit ein Schuldbewusstsein entwickelt, das zu einer sehr ausgeprägten politischen Korrektheit geführt hat. In Berlin wurde unlängst ein 44-seitiger Leitfaden zur Stärkung der Vielfalt und gegen Ausgrenzung verabschiedet. Demnach darf ein Schwarzfahrer nicht mehr «Schwarzfahrer» genannt werden, sondern ist als «Person beim Fahren ohne gültigen Fahrausweis» anzusprechen. Ausländer sind dort ab sofort keine Ausländer mehr, sondern «Einwohnende ohne deutsche Staatsbürgerschaft».

Von solcher Korrektheit der deutschen Bundeshauptstadt bleibt die Schweiz keineswegs verschont. Die aus Niedersachsen stammende Gesine Krüger, Vorsteherin des Historischen Seminars der Universität Zürich, verantwortet eine Studiengruppe, welche die Zürcher Verstrickungen in den Sklavenhandel untersucht hat. Jetzt beflügelt Krüger die Diskussion um das Denkmal von Alfred Escher vor dem Hauptbahnhof. Denn es gehe um eine «gesellschaftliche Debatte» über die Frage, an wen und was im städtischen Raum wie erinnert werden soll.

Neuzeithistorik​​​​​​​​er aus Deutschland sind selbstverständlich ständig mit der Geschichte ihres eigenen Landes konfrontiert. Und darum recht unerbittlich auch dann, wenn es um die angeblichen Sünden unserer schweizerischen Vorväter geht. Schon in der 26-bändigen Untersuchung der Bergier-Kommission über das Verhalten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sassen zahlreiche deutsche Wissenschaftler über unser neutrales Land zu Gericht.

Wenn Deutsche in der Schweiz die Schweizer belehren, dürfte sich bei vielen das Bild des strengen Moralzuchtmeisters Lehrer Lämpel aus Wilhelm Buschs «Max und Moritz» aufdrängen. Man weiss dann nicht so recht, ob man das forsche Selbstvertrauen der deutschen Pädagogen eher bewundern oder beklagen soll. Jedenfalls wirkt es Lämpel-mässig, wenn eine Professorin Gesine Krüger Alfred Escher als Begründer der modernen, liberalen und marktwirtschaftlichen​​​​​​​​ Schweiz vom Sockel stürzt. Oder sein Andenken zumindest mit einer Schandtafel gegen seine Vorfahren verunziert.

Lämpel-mässiges Pädagogisieren.

Wi​​lh​​​​​​elm Busch: Lehrer Lämpel (aus Max und Moritz), 1865 (Wikimedia Commons)

Umgekehr​​t würden sich in Deutschland tätige Schweizer wohl dreimal überlegen, ob sie dem Gastland in moralistischem Predigerton die Leviten lesen wollen. Auch ist es eine recht bittere Pointe, dass es sich bei der Herabsetzung Eschers um einen Rückfall in die Sippenhaft und damit in ein überwunden geglaubtes deutsches Rechtsprinzip unseligen Andenkens handelt.

Deutsche wählen links

Viele haben sich am letzten Abstimmungswochenende​​​​​​​​ gewundert über den heftigen nationalen Linksrutsch, der sich bei allen Vorlagen bemerkbar machte. Die enorme Mobilisierung der Städte und Agglomerationen ebenso wie die Abstimmungsresultate dürften auch mit den Einbürgerungen der letzten Jahre zusammenhängen. Die Linke treibt diese schon seit längerem erfolgreich voran. Wenn die Genossinnen Jacqueline Fehr und Corine Mauch per Rundschreiben zur Einbürgerung aufrufen und das Stimmrecht für Ausländer fordern, wissen die beiden Politstrateginnen genau, dass Neubürger deutlicher links stehen als die gebürtigen Schweizer.

Der Politologe Oliver Strijbis kommt zum Schluss: «Die Ausländer stimmen schon eher links.» Wähler mit Migrationshintergrund​​​​​​​​ bekennen sich weit stärker zur SP, als es ihrem Wähleranteil entspricht. «Die Ausländer in der Schweiz bezeichnen sich als stärker linksorientiert und vertreten häufiger linke politische Positionen als der Durchschnitt der Schweizer», stellte Politologe Andreas Ladner 2016 fest. «Populärste Partei unter den Ausländern ist die SP, die SVP liegt deutlich hinter ihrem Wähleranteil bei den Nationalratswahlen zurück.» In Zukunft sind gravierende Umwälzungen zu erwarten, denn nicht weniger als 55 Prozent der rund 2,2 Millionen in der Schweiz wohnhaften Ausländerinnen und Ausländer erfüllen die Wohnsitzerfordernisse​​​​​​​​ des Bundes für eine Einbürgerung.

Die Deutschen bilden die zweitgrösste Ausländergruppe, knapp hinter den Italienern. Zu Beginn der Personenfreizügigkeit​​​​​​​​ 2002 lebten 126 000 Deutsche in der Schweiz, heute sind es 310 000. Dabei wurden in dieser Periode rund 60 000 Deutsche eingebürgert. Seit 2007 erlaubt die Bundesrepublik ihren Bürgern die doppelte Staatsbürgerschaft, was zu einem sprunghaften Anstieg der Einbürgerungen führte. Im Jahr 2000 stellten die Deutschen erst 2,3 Prozent der Eingebürgerten, 2019 waren es 16,2 Prozent – es folgten, weit abgeschlagen, die Italiener (12,2 Prozent) und die Balkanländer Serbien, Montenegro und das Kosovo (11,8 Prozent).

Speziell interessant dabei ist, dass 2019 der Anteil der in der Schweiz Geborenen an den eingebürgerten Deutschen auffallend klein war, nämlich bei 6663 Personen nur gerade deren 1650. Ganz exakt sind von 59 519 deutschen Neubürgern zwischen 2002 und 2019 lediglich 13 374 in der Schweiz auf die Welt gekommen, was 22,5 Prozent entspricht. Zum Vergleich: Von den eingebürgerten Italienern sind 60 Prozent hier geboren, von den Kosovaren ebenfalls der grössere Teil, von den Spaniern knapp die Hälfte. Die Integrationszeit der Deutschen ist also geringer als jene der Südeuropäer und Balkan-Bewohner. Damit fällt bei den meisten Deutschen eine Hauptforderung dahin, die der Staatsrechtler Zaccaria Giacometti als Voraussetzung unserer Demokratie gefordert hat: die generationenlange Überlieferung eines «Schatzes an freiheitlichen politischen Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen».

Dass die Deutschen beim Bürgerrecht zugreifen, ergibt politisch wie ökonomisch Sinn. Es erlaubt ihnen, in einem einzigen Jahr über mehr Vorlagen abzustimmen als in ihrer Heimat in einem ganzen Leben. Materiell werden sie Miteigentümer eines wesentlich grösseren Volksvermögens; gemäss Berechnung der Credit Suisse beträgt das Durchschnittsvermögen​​​​​​​​ eines Erwachsenen unter Einbezug der finanziellen und materiellen Aktiva in der Schweiz 565 000 Dollar (Rang 1), in Deutschland lediglich 216 654 Dollar (Rang 21).

Die EU gilt als gute Sache

Weil die Deutschen mittlerweile den Spitzenplatz unter den Eingebürgerten einnehmen – weit vor den nächstfolgenden Italienern, Franzosen und Kosovaren –, ist ihre Stimmdisziplin und ihre politische Präferenz von besonderem Interesse. Leider fehlen empirische Untersuchungen zum Stimmverhalten der eingebürgerten Deutschen.

Gespräche und Erfahrungen legen aber nahe, dass sie ihr Stimmrecht vergleichsweise oft wahrnehmen, jedenfalls disziplinierter als jene Mitbürger, die aus Südeuropa, der Balkanregion oder der Türkei stammen. Die Deutschen als vornehmlich in Städten und Agglomerationen lebende Stimmende dürften am 28. September die neuen Kampfjets und die SVP-Begrenzungsinitia​​​​​​​​tive abgelehnt, dafür dem Vaterschaftsurlaub zugestimmt haben.

Nun gibt es viele Deutsche in der Schweiz, die im Gastland gerade das schätzen, was sie in Deutschland vermisst haben: mehr demokratische Mitbestimmungsrechte,​​​​​​​​ weniger Brüsseler Bürokratie, mehr Meinungsvielfalt. Doch bei den meisten Deutschen ist speziell der Sinn für wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Staat wenig entwickelt. Der deutsche Schweiz-Kenner Bruno Reihl schreibt in seinem vorzüglichen «Handbuch» für Deutsche in der Schweiz: «Generell geht die deutsche Mentalität seit der Wiedervereinigung 1989 zunehmend in die Richtung, dass der Staat alles richten soll. Dies steht in fundamentalem Gegensatz zur Schweiz, in der das Volk gegen zu viel Staatseinfluss ist und wo immer wieder an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert wird.»

Natürlich gibt es viele Deutsche, die genau deswegen in der Schweiz leben, weil sie die Schweiz politisch schätzen, als unabhängiges Land mit einer bürgernahen Demokratie und viel Freiheit. Diese Deutschen stehen auch der EU vorwiegend skeptisch gegenüber und haben Sympathie für den schweizerischen Sonderfall. Das ist aber nicht die Mehrheit. Für die meisten hier niedergelassenen Deutschen ist die Europäische Union eine gute Sache; der helvetische Sonderweg erscheint ihnen sonderbar. Zweifellos beeinflusst die belastete deutsche Geschichte das Wahlverhalten und macht Europa zum einzig erlaubten Gegenstand des patriotischen Bewusstseins. Dabei bleiben die Kenntnisse unserer Institutionen oft rudimentär. So schwärmte der (Neu-)Schweizer Spitzenmanager Christoph Franz: «Ich bin ein Fan der direkten Demokratie.» Freilich nur, um im nächsten Satz den EU-Rahmenvertrag und damit deren massive Einschränkung zu fordern.

Die Geschichte prägt den Charakter der Völker, und die Deutschen haben fraglos eine intensive, man könnte auch sagen, eine extreme Geschichte hinter sich, mit glänzenden Höhepunkten, aber auch mit fürchterlichen Abgründen. Seit der Nazizeit sind bestimmte politische Begriffe in Deutschland, wie «Nationalstaat», «Volk», «Volksentscheid», «konservativ» oder «Ausländer», historisch besonders verseucht. Unter den Parteien haben nur die deutschen Sozialdemokraten wegen ihres Widerstands gegen Hitler eine reine Weste. Alle anderen, vor allem die Bürgerlichen, haben Hitler zugedient, was dem Adjektiv «rechts» in Deutschland bis heute einen toxischen Beiklang gibt.

Das erklärt, warum viele Deutsche, auch wenn sie in der Schweiz leben, ihr Wahlverhalten an den Schablonen ihrer historischen Erfahrung ausrichten. Man wählt mit Vorliebe die SP oder die Grünen, auch die Grünliberalen. Im bürgerlichen Spektrum ist der linksliberale Teil der FDP gerade noch vermittelbar. Die SVP ist für die Deutschen mindestens so rechtsextrem und fremdenfeindlich wie die AfD. Beim Strassenwahlkampf 2019 mussten sich fast alle SVP-Kandidaten irgendwann das Schimpfwort «Nazi» gefallen lassen – besonders oft aus hochdeutschen Kehlen.

Brexit und Trump sind des Teufels

Somit haben die eingebürgerten Deutschen in der Schweiz angesichts knapper Mehrheiten zwischen dem linken und dem bürgerlichen Lager durchaus die Macht, das Land umzupflügen. Dies umso mehr, als sie sich auch in den Medien stark bemerkbar machen. Die von Radios und Fernsehen befragten Experten reden zunehmend hochdeutsch. Der Tages-Anzeiger zahlt der Süddeutschen Zeitung Geld, damit er die Inhalte von deren Autoren in aller Welt übernehmen darf. Seither erklären deutsche Auslandkorrespondente​​​​​​​​n dem Schweizer Publikum die politische Sicht aus ihrer Perspektive. Die 27-jährige Deutsche Fabienne Kinzelmann setzt im Auslandressort der Ringier-Medien den vermeintlich verabscheuungswürdige​​​​​​​​n Donald Trump und dessen Vize Mike Pence unsanft auf die Anklagebank. Obendrein predigt Kinzelmann unentwegt den klimatischen Weltuntergang («Meine Woche mit Greta»).

Auch in der NZZ – vom früheren Deutschland-Korrespon​​​​​​​​denten Eric Gujer ohne innenpolitische Leidenschaft geleitet – schreitet die Germanisierung ungestüm voran. Dies zeigt sich im ständigen Schielen auf deutsche Befindlichkeiten und auf den deutschen Lesermarkt, wo die NZZ punkten will. Das EU-zentrierte Zetern über den Brexit und über den US-Präsidenten lässt mittlerweile die von Karl Schmid gerühmte liberale «Wahlverwandtschaft» der Schweiz mit dem angelsächsischen Raum vergessen.

Der deutsche Einfluss trieft aus allen Zeitungsspalten. Wer sich der Kleider entledigt, «zieht blank» (Blick), da werden «Hammelbeine langgezogen» (Tages-Anzeiger), auch ist man «völlig baff» (Bilanz), doch dabei ist «alles in Butter» (Thurgauer Zeitung). Es «bleibt kein Auge trocken» (Basler Zeitung), wir hören vom «alten Schweden» (Zofinger Tagblatt), von «Geduld und Spucke» (Glattaler), und sogar beim Boten der Urschweiz geht so manches «durch die Lappen». In der NZZ sorgt ein deutscher Gastautor für folgende farbliche Sprachblüte: «Glücklicherweise ist der Schwarze Kontinent in Bezug auf Sars-Cov-2 mit einem blauen Auge davongekommen.»

Die Schweizer Mundarten kommen derweil arg unter die Räder. Statt z Züri hört man «in Züri», statt uf Basel heisst es immer öfter «nach Basel». Aus den Mane oder Manne sind längst «Männer» geworden, das gute alte Ross hat sich in ein «Pferd» verwandelt. Auch das übercho zieht sich zugunsten des «becho» immer mehr zurück. Von parkiere (neu: «parke») oder grilliere (neu: «grille») nicht zu reden.

«Deutsche ziehen Deutsche nach» – diesen Merkspruch kennt man mittlerweile nicht nur im Geschäftsleben und an den Hochschulen. Martin Ebel aus Köln beherrscht als Feuilletonist des Tages-Anzeigers und als Preisrichter die Schweizer Literaturkritik. Peter Schneider aus dem Nordrhein-Westfälisch​​​​​​​​en erfreut das Land mit seinen Satiren. Gesa Schneider aus Bonn leitet in Zürich das Literaturhaus, Nicola Steiner moderiert den SRF-«Literaturclub». Das Schauspielhaus Zürich – vom einstigen Publikum strikt gemieden – steht unter der Doppelintendanz der Deutschen Benjamin von Blomberg und Nicolas Stemann. Der Heidelberger Florian Scholz führt die Dreispartenbühne Bern. Das Theater Basel wird vom Kölner Benedikt von Peter dirigiert; seine Nachfolge am Luzerner Theater wird Ina Karr vom Staatstheater Mainz übernehmen.

Es war die deutsch-schweizerisch​​​​​​​​e Schriftstellerin Gunhild Kübler, die dem Deutschschweizer Unbehagen angesichts des übermächtigen Nachbarlandes Ausdruck gab: Deutschland habe 16-mal mehr Einwohner als die deutschsprachige Schweiz, China habe 16-mal so viel Einwohner wie Deutschland: «Wenn sich also ein Deutscher in die Lage eines angesichts dieser Übermacht eingeschüchterten Deutschschweizers versetzen möchte, der soll sich einmal vorstellen, dass sein Land im Osten nicht an Tschechien grenzt, sondern an China.»

Was folgt daraus? Nichts gegen die Deutschen an sich. Sie leisten Hervorragendes und bereichern im Wortsinn den Kleinstaat. Die Schweizer können von den Deutschen lernen, wie man in Debatten selbstbewusst und überzeugend argumentiert. Umgekehrt schadet es nicht, wenn sich die Deutschen die Unterschiede der so ähnlichen Völker stärker bewusst machen: Moralismus und pädagogisierende Besserwisserei sind keine Tugenden, mit denen man sich in der Schweiz viele Freunde macht.

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