Tschernobyl – eine Reise in eine Vergangenheit? Nein, leider sind die Katastrophe und ihre Folgen in der Region auch nach 25 Jahren immer noch allgegenwärtig – hier wie versprochen einige Eindrücke von meiner Reise. Doch auch der Link zur Schweizer Aktualität muss unweigerlich gemacht werden, hat doch die Nuklearsicherheitsbehörde gestern Mängel an den Schweizer AKWs aufgedeckt. Sollte man also nicht jetzt, anstatt noch mehr Geld zum Nachrüsten dieser hochriskante Technologie auszugeben, die Dinger abschalten und ernst machen mit Investitionen in EnergieeffizienzDie Energieeffizienz ist das Verhältnis von Energienutzen u... und erneuerbare Energien?
Über Ostern hatte ich Gelegenheit, an einer Parlamentarier-Studienreise in die Ukraine teilzunehmen – es war eine Art Ortsschau 25 Jahren nach der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl. Organisiert hatte die Reise Green Cross Schweiz . Viele Menschen in der Region um Tschernobyl kämpfen heute noch mit den Folgen dieses Atomunglücks. Die Sowjetunion hat zwar damals 60 Kilometer von Tschernobyl entfernt eine völlig neue Stadt aus dem Boden gestampft – Slawutitsch. Hier wurde ein Teil der Bevölkerung der verstrahlten Arbeiterstadt Prypjat neu angesiedelt. Heute leben etwa 25 000 Menschen in diesem Ort. Viele Leute in den teilweise verstrahlten Gebieten um Tschernobyl haben keine Zukunftsperspektive. Sie haben keine Jobs, können nur verstrahlte Nahrung selber produzieren und werden vor allem von vielen verstossen. Sie sind ein Leben lang stigmatisiert. Schlimm sind die Folgen für kleine Dörfer in der Nähe von Slawutitsch. Bei unserem Besuch in Pakul, das am äusseren Rand der kontaminierten Zone liegt, haben wir den Alltag hautnah miterlebt. 650 Menschen wohnen hier – viele in bitterer ArmutArmut bedeutet Unterversorgung in wichtigen Lebensbereichen .... Darunter 130 Kinder. Die meisten Familien sind teilweise Selbstversorger. Heute fehlt in diesem Dorf immer noch rudimentäres Wissen über das richtige Verhalten und den Umgang mit kontaminierten Lebensmitteln. Viele Böden in und um Pakul gelten immer noch als radioaktiv verseucht. Trotzdem bebauen die Dorfbewohnerinnen und -bewohner das Land und halten sich Kühe und Schweine. Besonders nachdenklich stimmte mich, dass Kinder, die zwei Jahrzehnte nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl zur Welt kamen, offenbar nun ebenfalls unter Schilddrüsenerkrankungen leiden. Die medizinische Versorgung ist schlecht. In der Schule fehlen die kranken Kinder oft lange und haben mit einem kleinen Schulrucksack eine zusätzliche Hypothek für ihr späteres Leben. Die Organisation Green Cross Schweiz versucht in Pakul mit diversen Projekten, die Lebensumstände einzelner Familien zu verbessern, bietet Ernährungsberatung an und eine medizinische Grundversorgung. Aber letztendlich ist das ein Tropfen auf einen heissen Stein.
Man kann natürlich die Zustände in der Ukraine nicht auf die Schweiz umlegen – sollte sich in einem Schweizer Atomkraftwerk einmal ein schweres Unglück ereignen. Das Elend in den Dörfern um Tschernobyl ist nicht allein die Folge der Katastrophe. Dafür verantwortlich ist auch das frühere Sowjetregime und die heutigen ukrainischen Machthaber, welche die Bevölkerung rund um Tschernobyl im Stich gelassen haben. Was für mich unbegreiflich war auf dieser Reise: Sowohl die staatlichen Stellen als auch die Leute in der Region von Tschernobyl setzen weiter auf Atomenergie. Unweit des Unglücks-Reaktor soll ein neues AKW ans Netz gehen. Es gibt zwar auf dem Papier staatliche Programme für EnergieeffizienzDie Energieeffizienz ist das Verhältnis von Energienutzen u... in Gebäuden, doch für die Umsetzung fehlen die finanziellen Mittel und wohl auch der politische Wille. Nach den Gesprächen mit den Regierungs- und Behördenvertreterinnen und -vertreter bin ich aber überzeugt, dass auch die kleine, reiche, hochtechnisierte und aufgeklärte Schweiz im Falle einer Atomkatastrophe hoffnungslos überfordert wäre. Nur ein Beispiel: Die damalige Sowjetunion hat im havarierten Reaktor insgesamt gegen 700 000 Liquidatoren eingesetzt – so nennt man die Aufräum- und Feuerwehrtrupps in Tschernobyl. Diese Leute rekrutierte man aus der ganzen Sowjetunion. Es brauchte so viele Menschen, weil man wegen der radioaktiven Strahlung nicht länger als 15 Minuten in der Nähe des Atomreaktors arbeiten durfte. Auch wenn die Sowjets damals bei der Katastrophen-Bewältigung schlampten, an dieser Regel hielten sie eisern fest. Dies bestätigten uns Liquidatoren der ersten Stunde, mit denen wir in Slawutitsch Gespräche führen konnten.
Bei einem GAU in der Schweiz bräuchte es rund 100 000 solcher Aufräumer. Doch woher nähmen wir diese Leute? Oder würden wir es wie die Japaner machen, die ein paar Mitarbeiter opferten, um noch Schlimmeres zu verhüten? Dieses entscheidende Detail haben wir bis heute in der Schweiz kaum diskutiert. Ich frage mich, ob die Schweizer Atom-Aufsichtsbehörde ENSI dieser Frage den entsprechenden Stellenwert beimisst. Es handelt sich hier um eine ebenso zentrale Frage wie jene der Evakuationen und Umsiedlungen, welche ebenfalls bis heute nicht geklärt sind. Nach einer Havarie muss ein Atomkraftwerk auch weiter unterhalten und betreut werden – und das für Jahrzehnte. Auch hier liefert Tschernobyl Anschauungsunterricht. Noch heute fahren täglich gegen 3000 Arbeiterinnen und Arbeiter auf das kontaminierte Gelände von Tschernobyl zur Arbeit. Aus meinem Besuch in der Ukraine ziehe ich vor allem eine Lehre, und diese gilt unabhängig davon, welche Einstellung man nun zur Atomenergie hat: Ein kleines, dicht besiedeltes Land wie die Schweiz kann sich einen GAU nicht leisten. Wir haben das Personal für die Bewältigung der Katastrophe nicht, und uns fehlen auch die Flächen, um Hunderttausende von Menschen umzusiedeln. Schon nur deshalb sollten wir uns rasch für den Ausstieg aus der Atomenergie entscheiden.
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Kommentare anzeigen Hide commentsUnfälle in Kernreaktoren können nicht umfassend getestet werden. Deshalb sind genaue Analysen von solchen Ereignissen sehr wichtig. Aus dem Unfall von Tschernobyl konnten nur wenige neue Erkenntnisse gewonnen werden, da dieser Reaktortyp nicht zu einer Kernschmelze führen kann, sondern die Brennstäbe in Mikroteilchen zerplatzen und zu einem Grafitbrand führen. Hingegen zeigte die Kernschmelze in Three Mile Island bei Harrisburg 1979 Schwachstellen unserer Leichtwasserreaktoren und brachte für deren Sicherheit grosse Fortschritte. So wurden auch in unseren Kernkraftwerken zusätzliche Notkühlsysteme erstellt. Leider sind die Sicherheitseinrichtungen noch immer stromabhängig, was in Japan zu grossen Problemen geführt hat. Diese Schwachstelle der heute im Einsatz stehenden Reaktoren der 2. Generation ist uns bekannt und wurde bei der Weiterentwicklung berücksichtigt. Neue Reaktoren der 3. Generation besitzen stromunabhängige Sicherheitseinrichtungen. Das ENSI hat bereits erste Konsequenzen aus den Erfahrungen in Fukushima gezogen und zusätzliche Sicherheitsanforderungen an die Betreiber der bestehenden Kernkraftwerke gestellt. Innerhalb einer vorgegebenen Frist sind diese zu erfüllen, sonst sind die Reaktoren abzustellen. Die umfassende Analyse der Reaktorunfälle in Japan wird vermutlich zu weiteren Erkenntnissen führen.
Auslesen zwischen erneuerbarer Energie oder Kernenergie können wir langfristig nicht – es braucht beide! Der Energieverbrauch eines Landes läuft erfahrungsgemäss parallel zu der Entwicklung seiner Volkswirtschaft. Weltweit wächst der Gesamtenergieverbrauch jährlich um 2%. Bis 2060 wird er sich von heute 120 PetaWattStunden auf etwa 300 PWh erhöhen. Der Anteil der fossilen Energiequellen übersteigt bereits 82%. Der Anteil der Energie aus Biomasse beträgt 10% und wird sich auch bei steigendem Gesamtenergieverbrauch ungefähr halten können. Gleiches gilt für die Wasserkraft bei etwa 3%.
Die Neuen Erneuerbaren Energien (ohne Biomasse) haben weltweit heute erst einen Anteil im Promille-Bereich. Die Kernenergie bringt auch nur ca. 5%. Doch zusammen müssen sie nach der Ablösung der fossilen Brennstoffe ca. 87% der Energie abdecken können (Gesamtenergieverbrauch – (Biomasse+Wasserkraft)). Das kann man sich heute fast nicht vorstellen! Grafik: http://www.bernerschach.ch/IEA.pdf
Doch in den kommenden Jahren sind neue Kernkraftwerke kein Thema. Die Diskussionen werden sich mit den bestehenden Anlagen befassen. Wir sollten alles tun, um den Anteil der erneuerbaren Energien zu fördern, selbst wenn es uns viel kostet. Unbestritten sind die Fotovoltaik und die Solarthermie zur Warmwasseraufbereitung. Bei der tiefen Geothermie ist ein Know-how aufzubauen. Zudem sind internationale Projekte mit Offshore-Windparks und die Solaranlage Desertec in der Sahara voran zu treiben. Langfristig wird die Ablösung der fossilen Brennstoffe ohne die Nutzung der Kernenergie jedoch kaum möglich sein, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Heute stehen wir allerdings erst in einer sehr frühen Phase der langfristigen Entwicklung von Kernreaktoren.
Erstens nutzen wir Uran nur zu 2% und hinterlassen stark radioaktiven Atommüll, der ca. 1 Mio. Jahre mit der Biosphäre nicht in Kontakt kommen sollte. Die über viele tausend Jahre nutzbaren Isotope Uran-238 und Thorium-232 werden erst in einigen Jahrzehnten als Brennstoffe in Kernreaktoren einsetzbar sein.
Zweitens sind die heute einsetzbaren Reaktoren (auch die neusten aus der 3. Generation) noch nicht inhärent. Das heisst, sie können wie in Japan trotz der Abschaltung grosse Hitze erzeugen. Wenigstens haben die heute erhältlichen Reaktoren der 3. Generation Notkühlsysteme, welche ohne Stromzufuhr funktionieren. Katastrophen wie in Fukushima sind so nicht mehr möglich. Zukünftige Reaktoren werden inhärent sein. Das heisst z.B. dass sie bei massivsten Erdbebenschädigungen die Kernprozesse sogleich beenden und keine Radioaktivität frei wird.
Drittens wird der Atommüll aus zukünftigen Kernreaktoren nur noch während einer überblickbaren Zeit von wenigen hundert Jahren kontrollierbar zu lagern sein. Die Halbwertszeiten dürfen gemäss den internationalen Vorgaben max. 100 Jahre sein.
Viertens sind schon ab 2013 erste Kleinreaktoren für Gemeinden erhältlich. Sie werden wie eine “Batterie” genutzt und ohne Unterhalt im Boden vergraben. Einzig ein kleiner Kühler ist sichtbar. Nach 8 – 10 Jahren wird die “Batterie” vom Lieferanten abgeholt und entsorgt. http://www.bernerschach.ch/Hyperion.pdf Spätere Modelle sollen 20 – 30 Jahre laufen.
Fünftens ist neben der Weiterentwicklung der Kernspaltung die Kernfusion ein zentrales Thema. Kernfusionsreaktoren dürften uns – wenn es gemäss den Forschern voran geht – etwa ab der Jahrhundertmitte zur Verfügung stehen. Aus einem gewöhnlichen Kieselstein und einem Glas Wasser lässt sich so genügend Strom für einen Menschen während einem Jahr produzieren. Als Asche entsteht wertvolles Helium. Neben der kurzfristig (einige Jahrzehnte) stark radioaktiven Innenwand des Reaktorgefässes, welche leider während des Reaktorlebens mehrmals ausgewechselt werden muss, ist einzig das stark flüchtige radioaktive Zwischenprodukt Tritium mit einer Halbwertszeit von 12 Jahren ein Risiko. Dieses kann zwar keine Katastrophe bringen, jedoch den unerwünschten Tritiumgehalt der Atmosphäre während einigen Jahren etwas erhöhen. http://www.bernerschach.ch/Kernfusion.pdf
Ja Frau Teuscher, sie haben recht. Ein Ausstieg aus der Atomenergie sollte so schnell als möglich vollzogen werden. Das bedeutet also, je schneller wir den Energiekonsum in der Schweiz reduzieren, desto schneller können diese AKWs abgestellt werden.
Leider ist die Politik der Grünen diesbezüglich nicht konsequent. Trotz der Erkenntnis, dass man Energie sparen muss, wird das Bevölkerungswachstum und dementsprechend der Anstieg des Energiekonsums in der Schweiz von den Grünen ignoriert. Dabei geht es ja nicht nur um die zusätzlichen Leute die direkt Energie konsumieren. Der grosse Faktor ist auch, dass für diese Leute Wohnungen, Strassen und viele andere Infrastrukturobjekte gebaut werden müssen. Der Bau von all diesen Dingen ist mit einem grossen Energieverbrauch verbunden. Dies will die heutigen Politik nicht erkennen.
Somit fordere ich sie hiermit auf: Seien sie Konsequent und nehmen sie das Problem des Bevölkerungswachstums in der Schweiz endlich ernst. Sonst sind meines Erachtens die Grünen nicht glaubwürdig.
Wenn wir Energie sparen, sparen wir auch Geld. Was machen wir aber mit dem gesparten Geld? Wir geben es anderweitig für Konsumgüter aus, was wiederum Energie – z. B. graue Energie – braucht oder wir bringen es den Banken und Versicherungen als Spargeld, wodurch diese in die Lage versetzt werden, Kredite zu geben für Investitionsgüter, deren Produktion, Betrieb und Unterhalt wiederum Energie brauchen. Das einzig wirksame Mittel gegen zu hohen Energieverbrauch ist die Reduktion des Einkommens für diejenigen Bevölkerungsschichten, die sich das leisten können oder wollen. Weniger Einkommen, dafür mehr Freizeit: das ist doch auch eine Lebensperspektive! Die materialistische Gesellschaft in den reichen Ländern wird abgelöst werden, entweder freiwillig oder aufgrund von Verteilungs-, Ressourcen- oder Umweltproblemen, die wir zwangsweise lösen müssen.