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Von Grund auf frei mit dem bedingungslosen Grundeinkommen

Mit einem be­din­gungs­lo­sen Gr­und­ein­kom­men kann die Schweiz den nächs­ten Schritt gehen – hin zu einem So­zi­al­staat, der die Frei­heit der Bür­ger_in­nen be­din­gungs­los anerkennt.

Der Sozialstaat der Industriegesellschaft​​​​, wie wir ihn kennen, folgt einer einfachen Idee: Wer kann, muss sich den Unterhalt selbst verdienen, sei es auf dem Feld, in der Stahlschmiede oder im Schlachthof. Wer nicht kann, muss sich die Unterstützung durch den Staat verdienen. Denn der hilft nur denen, die er für hilfsbedürftig hält.

Die Schweiz von heute ist nicht mehr die Schweiz der Industrialisierung. Unsere Wirtschaft ist dienstleistungsorient​​​​iert, digitalisiert und weltweit vernetzt, unsere Bürger_innen hochgebildet, weltgewandt und selbstbewusst. Alles hat sich verändert, nur der Sozialstaat ist im Prinzip immer noch der gleiche wie im späten 19. Jahrhundert. Im frühen 21. Jahrhundert ist er reif für eine neue Idee. Und diese Idee ist das Grundeinkommen, über welches die Schweizer_innen am 5. Juni abstimmen. Die Initiative sieht vor, dass jede_r Bewohner_in vom Staat bedingungslos Geld für ein menschenwürdiges Dasein bekommt. Warum ist das die richtige Idee zur richtigen Zeit?

Warum der Sozialstaat reif für eine neue Idee ist

Erstens, weil ein Grundeinkommen den überholten bevormundenden Sozialstaat überwindet, um einen befreienden Sozialstaat zu schaffen. Die Geschichte der Schweiz war immer auch eine Geschichte der Befreiung von Fremdherrschaft, Obrigkeitswillkür und Unterwerfung. Doch während in allen Lebensbereichen die Selbstbestimmung wuchs, blieb der Sozialstaat eine übermächtige Überwachungsanstalt. Innenminister Alain Berset sagte kürzlich, unser Sozialstaat ermögliche ein menschenwürdiges Dasein. Genau das schafft er aber nicht. Er degradiert Notleidende zu Bittstellern und stigmatisiert Leistungsbeziehende zu Sozialschmarotzern. Der Sozialstaat ist heute das mächtige Instrument, mit dem der Staat Lebensentwürfe beurteilt und Lebenschancen zuteilt. Wer in diesem System auf Hilfe angewiesen ist, der ist nicht vollständig frei – und wer nicht frei ist, kann kein menschenwürdiges Leben führen.

Zweitens, weil unser Land noch nie so reich war wie heute. Das Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz ist so hoch wie fast nirgendwo sonst auf der Welt und zudem so hoch wie niemals zuvor. Ein Land, in dem sich die Menschen mehr leisten können als fast überall, könnte sich vor allem mehr Freiheit leisten. Ausserdem ist das Pro-Kopf-Einkommen auch ein Mass für die Produktivität eines Landes. In einem der produktivsten Länder der Welt ist das Risiko gering, dass sich die Bezieher_innen eines Grundeinkommens alle auf die faule Haut legen. Es steht ausser Frage, die Schweizer_innen wollen arbeiten. Ein Grundeinkommen ändert nichts an diesem Willen: Bei einer Umfrage sagten 90 Prozent der befragten Bewohner_innen der Schweiz, sie würden weiterhin arbeiten. Die Behauptung, dass wichtige Güter nicht mehr hergestellt würden, ist folglich reine Angstmacherei. Doch die Chance, dass Menschen befreit von Einkommensdruck die Arbeit wählen können, die ihren Neigungen entspricht und in der sie am besten sind, ist riesig.

Drittens, weil in unserer Gesellschaft viel mehr geleistet als bezahlt wird. Wer heute seine Kinder versorgt, sich um pflegebedürftige Angehörige kümmert, kulturschaffend tätig ist oder sich ehrenamtlich engagiert, leistet zwar einen wichtigen Dienst an der Gemeinschaft, geht aber leer aus. Diese Arbeiten werden nicht entlohnt. Schlimmer noch: Wer zusätzlich zu dieser unbezahlten Arbeit Geld verdienen muss, hat weniger Zeit für seine Familie und muss zum Ersatz etwa auf Kinderbetreuungsangeb​​​​ote oder Pflegeheime zurückgreifen. Der heutige Sozialstaat bestraft freiwillige soziale Leistungen und reisst familiäre Bindungen auseinander. Ein bedingungsloses Grundeinkommen hingegen fördert wertvolle aber unbezahlte Arbeit und stärkt familiäre Bindungen, indem es beispielsweise den Lebensunterhalt der pflegenden Familienangehörigen sichert.

Viertens, weil sich unsere Wirtschaft in einem grundlegenden Wandel befindet. Der Wohlstand der Zukunft wird nicht in riesigen Industriekonglomerate​​​​n gesichert, sondern in ideenstarken, kleinen Neugründungen. So wie die Wirtschaft Ideen braucht um zu gedeihen, brauchen Ideen aber Freiraum um zu spriessen. Dabei ist es gar nicht entscheidend, dass jede neue Idee als Multi-Milliarden-Doll​​​​ar-Konzern im Dow Jones-Index enden muss. Entscheidend ist, dass sie auch in der sprichwörtlichen Garage beginnen kann. Ein bedingungsloses Grundeinkommen schafft genau die Räume, die nötig sind, damit Gründer_innen unabhängig von Erfolgsdruck ihre Kreativität freisetzen und sich ausprobieren können. Was als Selbstverwirklichung beginnt, könnte zum Grundstein für neue wirtschaftliche Erfolge werden.

Der Sozialstaat muss sich verändern, um seine Kernidee zu bewahren

Die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» lässt viele Details offen. Gerade deswegen verdient sie ein JA. Denn eine grosse gesellschaftliche Idee braucht Zeit und einen breiten öffentlichen Diskurs, um alle miteinzubeziehen. Nur ein JA anerkennt, dass der Sozialstaat der Industrialisierung nicht mehr der Sozialstaat einer modernen, digitialisierten und automatisierten Dienstleistungsgesell​​​​schaft sein kann. Und nur ein JA öffnet die Tür zu einer gemeinsamen Diskussion darüber, wie der Sozialstaat neu gedacht werden muss.

Die Schweiz war in ihrer Geschichte immer wieder bereit, sich an eine veränderte Welt anzupassen. Was aber über all die Zeit unangetastet geblieben ist, ist die Grundidee der Schweiz als Hort der Freiheit. Beides zusammen hat unser Land stark und erfolgreich gemacht. Auch für den Sozialstaat brauchen wir also zweierlei: Eine zeitgemässe Weiterentwicklung und gleichzeitig das Bewahren und Stärken der liberalen Kernidee. Ein bedingungsloses Grundeinkommen bietet beides. Es ist daher nicht das Ende für das Erfolgsmodell Schweiz, wie die Gegner_innen häufig behaupten – sondern im Gegenteil seine Zukunft.

Diesen Text habe ich auch auf meinem Blog veröffentlicht. Er steht somit unter einer CC BY-ND 4.0 Lizenz.

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