1. Politisches System

Wer keine Wahl hat, muss zum stärksten Mittel greifen

Manchmal wis­sen selbst seine Die­ner nicht, wer das Ober­haupt im Schwei­zer­haus ist: der Souverän. In der heutigen NZZ be­klagt sich der ehe­ma­lige Staatssekretär Jean-Da­niel Gerber über die Flut von Volks­i­ni­tia­ti­ven​, die «die wert­volle Zeit des Bun­des­rats, der Ver­wal­tung und des Parlaments» be­an­spruch­ten. «Die po­li­ti­sche Agenda sollte primär be­stimmt wer­den durch den Bun­des­rat und das Parlament

Zur Remedur schlägt Gerber nicht eine Erhöhung der Unterschriftenzahl vor – das würde den Gemeinden mit der Beglaubigung nur noch mehr zu tun geben, sondern eine Halbierung der Sammelfrist und – man höre und staune – ein Quorum im Parlament. Das Parlament könnte dann selbständig entscheiden, welche Aufträge des Souveräns es in Gesetze giessen muss und welche nicht. Es kann nicht, dass sich die Diener auf den Thron schwingen. Sie sind ihm nahe genug.

 

Mit Beginn der 80er Jahre hat sich die Zahl der Volksinitiativen markant erhöht, von durchschnittlich weniger als zehn pro Jahrzehnt auf rund 30. Der Boom hat nichts mit dem Internet zu tun und wenig mit der gestiegenen Bevölkerungszahl, die das Quorum von 100’000 etwas erleichtert hat. Die verstärkte Einmischung des Souveräns in die Geschäftsführung der Staatsdiener ist vor allem ihren Versäumnissen geschuldet, die Teilhabe am Erfolg der Moderne gerecht zu gestalten und die damit verbundenen Lasten den Verursachern zu überbinden. Die Gülle stinkt für alle, aber nur Wenige ernten. 

Wenn die Politik nicht mehr dem Gemeinwohl dient, beteiligen sich gezwungenermassen vermehrt Menschen am politischen Prozess, die im Establishment nicht vertreten sind oder dieses sogar ablehnen. Die Mittel der Beteiligung sind aber beschränkt. 

 

Wer ein politisches Anliegen habe, soll gemäss Gerber primär versuchen, genügend Parlamentarier dafür zu gewinnen. «Unsere Vertreter im Parlament wissen hoffentlich, was die Bevölkerung bewegt.» Richtig, sie wissen es. Aber sie nehmen sich nur der Themen an, mit denen man sich profilieren kann, bei denen leicht Mehrheiten zu erreichen sind oder mit denen man massgebenden Kreisen einen Freundesdienst erweisen darf. Wer schon versucht hat, Parlamentarier für ein Anliegen zu gewinnen, kann ein Lied davon singen. 

 

Wenn das Initiativrecht schon eine Reform braucht, dann in Form der Volksmotion. Damit können Anliegen verbindlich in die Parlamente getragen und von diesen autonom behandelt werden. Der Bundesrat anerkennt zwar in seiner Antwort auf eine entsprechenden Vorstoss von Ständerat Minder aus dem Vorjahr, das in einigen Kantonen bereits bestehende Volksrecht habe sich «positiv auf die politische Debatte ausgewirkt», lehnt es aber mit der eigenartigen Begründung ab, es schwäche die Volksrechte. 

 

Nat​ürlich ist die Volksmotion weniger stark als die Initiative. Das ist es ja gerade. Man will doch als Souverän nicht jedes Anliegen gleich in schärfstem Befehlston vortragen. Damit entfernt sich die Politik zunehmend von der freien Debatte und verkommt zum Kampf. Der Missbrauch des Initiativrechts ist daher nicht Ausdruck der Dummheit des Souveräns, sondern Symptom des Mangels anderer Möglichkeiten. Wer keine Wahl der Mittel hat, muss zum stärksten greifen.

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