(anlässlich der 1.-Augustfeier 2009 in Birrwil)
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
wenn wir ein Verein wären, würde ich lieber sagen: Liebe Mitglieder und Sympathisanten; schliesslich ist mitmachen wichtiger als Bürgerschaftsausweise besitzen.
Ein Stück weit war es auch die Überzeugung, dass Mitmachen wichtiger ist als Gewinnen (oder: als Gewinn machen), der Grund, weshalb ich nicht sofort nein gesagt habe, als mich Christian Schweizer gefragt hat, ob ich nicht die Erst-August-Ansprache halten wolle.
Denn eigentlich ist mir als Kind und Jugendlicher diese Veranstaltung immer etwas suspekt gewesen: So viel Würste, Fähnen und Kracher für etwas, von dem ich das Gefühl hätte, es sei im wesentlichen nicht unser Verdienst, sondern wir seien einfach zufällig da hineingeboren worden. Das stehe doch in keinem Verhältnis zu der Missachtung, unter der der Tag der Menschenrechte, der Tag des Wassers oder der Tag der Artenvielfalt zu leiden haben. Ich habe die Schweiz als statisch wahrgenommen, “fertig gebaut”, um eine ehemalige Zürcher Stadtpräsidentin zu zitieren, und selbstzufrieden, ein Land, das mich eigentlich nicht braucht.
Und: geben wir’s zu: es ist doch ein bisschen so. Als meine Mutter sich 1961 in Zürich um eine Stelle beworben hat, hat sie einen Stadtplan gekauft, um Shell an der Josefstrasse zu finden. Und genau diese Karte benützt sie heute noch, wenn sie nach Zürich geht, denn das einzige,was sich geändert hat, sind ein paar zusätzliche Linksabbiegeverbote. Oder fragen Sie einen Deutschen, was speziell ist an einem Schweizer Telefonbuch.: Klar: nach zwei Kriegen und den damit verbundenen Umwälzungen und Flüchtlingsströmen ist es für ihn schlicht nicht denkbar, dass in einem Dorf noch ein Drittel der Bevölkerung Härri oder Gloor heisst, weil sie sich da zweihundert Jahre im Frieden und ungestört vermehren konnten.
Wie anders war das, als ich 1997 das erste Mal für 8 Monate in die Ukraine kam. Ein Land im Umbruch – nichts war so wie gestern. Ich habe 20jährige getroffen, die in ihrem Leben schon eine Importfirma für Computerersatzteile gegründet, eine Jugendorganisation zur Tourismusförderung aufgebaut und Forstwirtschaft studiert haben.
Für Untersuchungen zur Landwirtschaft der Karpaten war ich einmal zwei Wochen auf einem Berghof ohne Strasse und Zeitung. Als ich zurückgekommen bin ins Tal, sind irgendwie alle Leute auf den Strassen gerannt. Ich habe etwa zwei Stunden gebraucht, um zu verstehen, dass alle schnell versuchten, irgend etwas zu kaufen, da inzwischen in Russland, 2000 km weit weg, eine Finanzkrise ausgebrochen war und auch das ukrainische Geld in zehn Tagen die Hälfte seines Wertes verloren hatte.
Oder ein ander Mal habe ich in Transkarpatien einen alten Mann kennengelernt. Dieser Herr Koribanic erzählte mir, dass er 1911 in Oesterreich geboren war, in der Tschechoslovakei zur Schule gegangen dann hat er erst in Deutschland als Pferdeknecht, dann als Mechaniker in einer sovjetischen Kolchose gerarbeitet, und schliesslich hat er sich in der Ukraine zur Ruhe gesetzt. Und ob all dem hat er sein Dorf nie verlassen, bloss hat das Dorf fünfmal seine Landeszugehörigkeit geändert.
Als ich wieder in die Schweiz zurückkam, ist es mir dagegen einmal passiert, dass ich einen Zwanziger von 1880 hatte (Sie wissen, als in Deutschland Wilhelm der erste Kaiser war). Ich habe ihn zusammen mit einem 50er von 1971 (als in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt wurde) und einem Zehner von 2001 (als die Swissair bankrott ging) in einen Kaffeeautomaten geworfen, und was ist passiert? – Es ist ein Kaffee rausgekommen. Da muss man sich ja vorkommen wie in einem Museum, wenn 130jähriges Geld noch funktioniert wie neu.
Nun bin ich aber Umweltnaturwissenschafter, und als solcher habe ich gelernt, dass es für eine Gesellschaft eines der wichtigsten Ziele ist, eine nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise zu finden, eine Lebensweise also, bei der das Leben heute keine Ressourcen zerstört, die man auch morgen noch brauchen würde, um leben zu können wie heute. Da muss man sich schon fragen: Die Schweiz musste seit 1848 keine wesentlichen Änderungen erfahren, während rundherum Staaten und Ideologien kollabiert sind sind und neu aufgebaut werden mussten. Sind wir nicht ein Beispiel politischer NachhaltigkeitNachhaltigkeit - auch "Nachhaltige Entwicklung" - bezeichnet...?
Der amerikanische Geograph Jared Diamond hat in seinem Buch “Kollaps” eine grosse Untersuchung dazu gemacht – er hat historische Kulturen von den Römern über die Maya bis zu den Normannen auf Grönland, die Bewohner der Osterinseln oder die Romanen im Engadin angeschaut und nach Gründen gesucht weshalb gewisse Kulturen untergegangen sind, andere aber nicht.
Er hat fünf entscheidende Faktoren gefunden:
Erstener Faktor: Nicht nachhaltige Ressourcennutzung und die damit verbundenen Umweltschäden.
Das ist zum Beispiel der Bevölkerung der Osterinseln zum Verhängnis geworden – Nach einem unkontrollierten Bevölkerungswachstum haben sich verschiedene Clans im Streit um die letzten Ressourcen sich gegenseitig zu beeindrucken versuchten, indem sie immer grössere Steinstelen aufgestellt haben, deren Transport riesige Mengen Holz verschlungen hat. Dadurch wurde die Insel so gründlich abgeholzt, dass sämtliche 26 Baumarten ausgerottet wurden, der Boden erodierte und auch kein Bauholz für Boote mehr da war, um zu fischen und zu reisen – was auf einer Insel 1800 km entfernt vom nächsten Flecken Land natürlich fatal ist.
Zweiter Faktor: Klimaveränderungen (ob natürlich oder selbstgemacht).
Klimaveränderungen haben zum Beispiel beim Untergang der Anasazi-Indianer in Neumexiko eine Rolle gespielt: Die Anasazi haben in einer feuchteren Phase ihren Staat in einer Tiefebene gegründet. Als das Klima trockener wurde und sich die Ebene landwirtschaftlich nicht mehr versorgen konnte, haben sie Kolonien in den umliegenden Bergen gegründet. Das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum, von wo aus Bewässerung, Handel und Religion organisiert wurde, blieb aber im Tal und musste von aussen versorgt werden. Als es dann noch etwas trockener wurde, haben die Anasazi-Priester, welche die Bewässerung organisierten und ihre Autorität v.a. daraus bezogen, dass sie Regen herbeirufen konnten, das Vertrauen der Leute verloren. In der Folge organisierte niemand mehr die Bewässerung, sie zerfiel und die Region musste grossräumig aufgegeben werden.
Dritter Faktor: Feindliche Nachbarn:
Denken sie an die Römer. Ich lasse jetzt mal aussen vor, ob das weströmiche Reich durch selbstverschuldete Schwäche oder wegen immer stärkerer drängelnden Germanen untergegangen ist, aber am Schluss wurden sie einfach überrannt.
Vierter Faktor: Austausch mit Nachbarn, Handelsbeziehungen oder das Wegfallen davon.
Nehmen sie z.B Lvivski, das Autobuswerk in Lehmberg, Ukraine. Dort wurden in den 80er-Jahren pro Jahr 20’000 Busse produziert, für die ganze Sowjetunion, China und Südamerika. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehörte ein Grossteil der früheren Inlandkunden plötzlich zu anderen Ländern, wareb hinter Zollschranken und hatten eine Menge eigener Probleme. Zudem gehörte ein wichtiger Zulieferer für die Innenausstattung neu zu Russland und war auch hinter einer Zollschranke. Als ich das letzte Mal dort war, 2001, hat Lvivski noch ungefähr 200 Busse pro Jahr produziert.
Fünfter Faktor: Wie die Kulturen mit Problemen vom Typ 1-4 umgehen. Das kann man geschickter oder ungeschickter machen. Nehmen wir die Römer: Als es absehbar wurde, dass sich Westrom nicht halten lässt, haben sie einfach ihre Hauptstadt nach Konstantinopel verlegt und noch einmal 1000 Jahre weitergemacht: Im Gegensatz dazu die Normannen auf Grönland. Während sie Viehzüchter waren, waren ihre Nachbarn, die Eskimos, Jäger und Fischer. Als im 14. und 15. Jahrhundert das Klima im Nordatlantik kälter und Viehzucht schwierig wurden, haben die Normannen nicht im Traum daran gedacht, von den heidnischen Eskimos Fischerei oder Harpunentechnik zu übernehmen. Als Aussenposten des europäisch-christlichen Abendlandes fühlten sie sich dazu viel zu überlegen. In der Folge sind sie irgendwann im 15. Jahhundert samt ihren Kühen ausgestorben.
Und, wie sieht es nun in der Schweiz aus? Haben wir es im Griff, auf die Herausforderungen durch Umweltschäden, Klimawandel, Zusammenarbeit mit Nachbarn und Konflikte angemessen zu reagieren, oder müssen wir auch damit rechnen, unter die Räder zu kommen?
Die Geschichte zeigt, dass es uns gar nicht so schlecht gelingt – auf jeden Fall sind uns schon verschiedentlich wegweisende Entscheide gelungen.
1647 zum Beispiel, im westfälischen Frieden, als wir unsere Neutralität festschreiben liessen. (Neutralität heisst nich, keinen Unterschied zwischen Recht und Unrecht zu machen. Sie heisst, nicht an Kriegen zwischen anderen Staaten teilzunehmen. Sie hat uns zwar nicht immer geholfen (z.B. nicht bei Napoleon), aber hat in den Weltkriegen sicher dazu beigetragen, dass uns keine Kriegspartei als potentiellen Bündnispartner der jeweils anderen sah und vorsorglich besetzen musste.
Ein anderer wegweisender Entscheid war das Forstpolizeigesetz von 1876. Der Wald stand damals unter enormem Nutzungsdruck für Bauholz und Landwirtschaftsland, und in der Folge gab es Lavinen, Erosion von Landwirtschaftböden und Versandung von Flussläufen. Hätte man damals nicht gesagt: Basta, ab jetzt darf kein Wald mehr kahlgeschlagen werden, und jeder gefällte Baum muss ersetzt werden, so wären die Alpen heute weitgehend unbewohnbar, und das Mittelland sähe aus wie Schottland.
Oder der Schritt vom Staatenbund zum Bundesstaat 1848: Da hat man gesehen, dass es ineffizient ist, einen in Aarau verurteilten Uebeltäter nach Erlinsbach an die Landesgrenze zu den solothurnischen Ausländern abzuschieben, weil er in ¾ Stunden zu Fuss wieder da ist. Und dass es ineffizient ist, nach einer Missernte nach Hagel im Seeland die Lebensmittelversorgung der Betroffenen dadurch weiter zu erschweren, dass man zwischen Grenchen und Biel Zölle erhebt. Wir haben damals kurzerhand unsere Nachbarn zu Mitbürgern gemacht und wurden von 26 vertraglich verbundenen Ländern zu einem.
Vielleicht – die Geschichte mag das beurteilen – haben wir kürzlich wieder eine ähnliche Hürde genommen, indem wir ja gesagt haben zum Schengen-Abkommen. Das führt dazu, dass die Grenze des Raumes, wo wir uns frei und unbürokratisch bewegen dürfen, nicht mehr 45 Autominuten von hier bei Koblenz, sondern neu irgendwo 16 Stunden weit weg hinter Lublin liegt.
Offenbar ist unsere mehrstufige und konsensorientierte Demokratie in der Lage, hinreichend gute Entscheidungen zu produzieren.
Es gibt relativ wenige krasse Fehlentscheidungen, die auch tatsächlich umgesetzt wurden. Das heisst, Fehlentscheidungen gabe es schon. Nehmen sie zum Beispiel das Autobahn-Y in Zürich. Da wurde Ende 50er-Jahre beschlossen, eine Autobahn auf Stelzen in Zürich auf der Limmat durchs ganze Stadtzentrum bis zum See zu bauen, mit einer Abzweigung, die ca. vom Central in einer Schneise durch die Altstadt zum Paradeplatz und weiter Richtung Chur führt. Grässlich. Aber der Weg vom Grundsatzentscheid über das Ausführungsprojekt bis zu den Baueinsprachen dauerte so lange, dass man nach 20 Jahren und den ersten zwei abgebrochenen Altstadthäuser gemerkt hat, dass das eine Schnapsidee ist.
Was in diesem Fall ein Vorteil war – der lange Entscheidungsprozess – ist aber oft auch unser Problem. Beim Bundesstaat hat es 50 Jahre gedauert von der ersten Testeinführung durch Napoleon bis wir uns selber dafür entscheiden konnten. Wer um den Zustand der Wälder um 1876 weiss, wundert sich, dass sie nach Einführung des Waldgesetzes überhaupt noch in der Lage waren, sich zu erholen. Und die Ziele, die wir heute in bilateralen Verträgen mit der EU anstreben, sind doch vielfach die gleichen, die schon vor 17 Jahren im EWR-Vertrag gestanden hätten, nur waren wir damals noch unsicher, ob wir dies wollen.
Was gesellschaftliche Entscheidungen betrifft, mag dies angehen, dass alles so lange dauert, vorausgesetzt, wir haben genug Geduld – 50 Jahre für den Bundesstaat, 50 Jahre fürs Frauenstimmrecht, 50 Jahre für ein kantonsübergreifend vereinheitlichtes Schulsystem – das mag alles akzeptabel sein, wenn die gefundene Lösung danach für die nächsten 200 Jahre taugt.
Was mir mehr Sorgen macht, ist unsere Entscheidungsfähigkeit in ökologischen Fragen.
Nehmen wir das Erdöl als fossilen Brenn- und Treibstoff. Aktuelle Berechnungen lassen vermuten, dass wir inzwischen rund die Hälfte der ereichbaren Vorräte verbrannt haben. Ob der Rest nun noch 35 oder 50 Jahre reicht ist unerheblich: wenn wir nun 30 Jahre darüber diskutieren, ob es nicht sinnvoll wäre, einen so wertvollen Rohstoff für die chemische Industrie und Kunststoffproduktion zu reservieren statt zu verbrennen, so werden wir nichts mehr dazu zu entscheiden haben.
Nehmen wir die Klimaveränderung: Dass wir mit unserer heutigen Wirtschaftsweise eine solche provozieren, war wissenschaftlich schon 1993 klar, als ich an die ETH kam. Natürlich können wir die nächsten 30 Jahre dazu verwenden, zu diskutieren, ob mit 2, 2.5 oder 3 Grad Erwärmung zu rechnen sei, und ob dies akzeptabel sei oder nicht, aber wir werden darob garantiert die Möglichkeit verspielen, etwas dagegen zu tun.
Und nehmen sie den Landverbrauch: Wir bauen, wenn auch nach RPG schön geordnet, jede Sekunde einen Quadratmeter Schweizer Boden unwiderruflich zu. Wenn der Neulandverbrauch weiter geht wie bisher, so haben wir in 150 Jahren kein Ackerland mehr. Auch dafür sollten wir nicht erst dann eine Lösung haben, wenn es zu einem Drittel passiert ist.
Daher möchte ich Sie aufrufen: Tragen sie Sorge zum nachhaltigen politischen System dieses Landes, das für gesellschaftliche Entscheidungen recht nachhaltig ist. Aber machen sie auch mit, nutzen sie es, auch intensiver und entschiedener als bisher, um Entscheidungen herbeizuführen, welche auch die ökologische Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit dieses Landes sicherzustellen. Und wenn ihnen die demokratischen Entscheide immer noch zu langsam gehen, nutzen Sie die Freiheit, die Ihnen dieses Land bietet, und fangen Sie bei sich selber an. Spätestens morgen!
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