Das Schweizer Gesundheitswesen gehört bereits zu den teuersten weltweit. Die insgesamt sehr hohen und stetig wachsenden Kosten lassen sich im internationalen Vergleich nicht nur durch die steigende Qualität erklären. Ein Teil des Kostenwachstums geht auch auf die Organisation der obligatorischen Grundversicherung zurück. Nach einem Überblick über die Kostenentwicklung der letzten Jahre erläutert der Text die verschiedenen Fehlanreize im Schweizer Gesundheitssystem und zeigt mögliche Lösungen für die einzelnen Probleme auf.
Schweizer Gesundheitswesen
Die Kosten im Schweizer Gesundheitswesen steigen. Die Gründe für diese Kostenentwicklung sind vielfältig und nicht auf einen einzelnen Faktor zurückzuführen.
Kostenentwicklung
Die Gesundheitskosten sind zwischen 1995 und 2010 schneller gewachsen als die Schweizer Wirtschaft. Während das BruttoinlandproduktDas Bruttoinlandprodukt (BIP) ist die Summe der Marktwerte a... (BIP) in diesem Zeitraum um 50% gestiegen ist, haben sich die Gesundheitskosten um 75% erhöht. Abbildung 1 zeigt diese Entwicklung. Mehr Informationen dazu finden Sie im Text „Steigende Kosten des Gesundheitssystems“.
Abb. 1: Entwicklung der Kosten im Gesundheitswesen und des Bruttoinlandproduktes. Quelle: BFS
Als Folge davon hat sich der Anteil der Gesundheitskosten am BIP erhöht. Im Jahr 2010 betrugen die Gesundheitskosten 10.9% des BIP. Bei Ländern mit qualitativ vergleichbarem Gesundheitswesen liegt diese Quote allerdings auf einem ähnlichen Niveau. Ein steigender Anteil deutet darauf hin, dass im Gesundheitswesen weitere Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Gegenzug bedeutet dies, dass die Gesundheitskosten einen immer grösseren Teil des eigenen Einkommens verbrauchen. Die hohen Kosten des Schweizer Gesundheitswesens zeigen sich auch im internationalen Vergleich. Mit jährlich 5‘496 CHF pro Kopf bezahlen Schweizer am drittmeisten für ihr Gesundheitswesen unter allen OECD-Ländern. Mehr bezahlt man nur in Norwegen (5‘619 CHF) und den USA (8‘586 CHF). Weitere Informationen dazu finden Sie im Text „Kosten des Gesundheitswesen – ein internationaler Vergleich“. Für die Kostenentwicklung gibt es verschiedene Gründe. Einige davon sollen nun kurz vorgestellt werden.
Gründe für die hohen Kosten
Ein Grund für die relativ hohen Kosten ist die Qualität des Gesundheitswesens. Die Schweiz besitzt nicht nur ein teures sondern auch ein qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen. Gesundheit ist nicht direkt messbar und so kann man die Qualität eines Gesundheitswesens schwer vergleichen. Man verwendet deshalb für die Bewertung der Gesundheit verschiedene Grössen wie beispielsweise die Lebenserwartung oder die Zugänglichkeit zu Gesundheitsleistungen für die Bevölkerung. Dabei befindet sich die Schweiz in der Spitzengruppe. Die Unterschiede zwischen den vordersten Rängen sind aber eher klein und darunter finden sich auch Länder (z.B. Schweden) mit geringeren Ausgaben für die Gesundheit als in der Schweiz.
Ein weiterer Grund ist der demografische Wandel, also die alternde Bevölkerung. Dieses Problem gibt es jedoch nicht nur in der Schweiz, sondern es ist in vielen Industrieländern verbreitet.
Ein Teil der Kosten wird durch die Politik ausgelöst. Da alle Schweizer direkt betroffen sind, ist es oft schwer, Lösungen in der Gesundheitspolitik zu finden. Schnell gehen Sparanreize verloren, denn Einsparungen ziehen fast zwangsläufig Einschränkungen mit sich. Dies wollen Politiker bei der Gesundheit meist vermeiden. So werden eher Leistungen und Mengen ausgebaut, was die Ausgaben steigert und nicht senkt.
Auch die Kantonsstruktur erklärt einen Teil der Kosten. Die Schweiz besitzt eigentlich nicht nur ein nationales Gesundheitswesen sondern 26 kantonale. Die hohe SouveränitätDie Souveränität bezeichnet im Völkerrecht die Unabhängi... der Kantone im Gesundheitsbereich erhöht die Kosten.
Schlussendlich wirken sich auch die gesetzlichen Regelungen auf die Kosten aus. In der Schweiz gibt es heute viele Anreize, die die Menge an nachgefragten und angebotenen Gesundheitsleistungen steigern. Diese Anreize bezeichnet man als Fehlanreize. Im Gesundheitswesen reagieren die Preise nicht auf AngebotAls Angebot im ökonomischen Sinn wird allgemein die angebot... und NachfrageAls Nachfrage im (mikro)ökonomischen Sinn wird allgemein di... sondern sie sind reguliert. Bei solchen fixen Preisen führt eine grössere Menge automatisch zu höheren Kosten. Von einem Fehlanreiz kann aber auch gesprochen werden, wenn für Versicherungen gesunde Neukunden am attraktivsten sind.
Der Text geht nun genauer auf die im Schweizer System enthaltenen Fehlanreize ein und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Er berücksichtigt dabei nur die obligatorische Grundversicherung. Einige der aufgezeigten Fehlanreize können aber auch auf die Zusatzversicherungen übertragen werden. Grundsätzlich haben sowohl die Nachfrager wie auch die Anbieter von Gesundheitsleistungen bestimmte Fehlanreize. Allfällige Lösungen können mit weitreichenden Änderungen verbunden sein. Es entstehen immer wieder Spannungsfelder und man muss Vor- und Nachteile abwägen. Verkompliziert wird dies dadurch, dass oft schwer messbar ist, in welchem Ausmass sich ein bestimmter Fehlanreiz auswirkt.
Fehlanreize auf der Nachfrageseite
Auf der Nachfrageseite des Gesundheitsmarktes steht der Konsument von Gesundheitsleistungen. Von der Nachfrageseite erhöht sich die Menge über Moral Hazard, Prämienverbilligungen und künstlich geschaffenes AngebotAls Angebot im ökonomischen Sinn wird allgemein die angebot....
Moral Hazard
Ist man gegen ein Risiko versichert, verhält man sich oftmals anders, als wenn man diese Versicherung nicht hätte. Diese Verhaltensänderung fasst man unter dem Begriff Moral Hazard zusammen. Sobald jemand krankenversichert ist, verhält er sich risikoreicher und fragt mehr Leistungen nach.
Im Schweizer System beeinflussen die FranchiseDie Franchise bezeichnet einen Betrag, bis zu dem ein Versic... und der SelbstbehaltDer Selbstbehalt ist ein Prozentsatz mit dem sich ein Versic... dieses Verhalten. Die Kosten von Gesundheitsleistungen bis zur Höhe der Franchise bezahlt man selbst. Sobald die Franchise erreicht ist, bezahlt man nur noch einen Selbstbehalt von 10% an die weiteren Kosten. Den Rest übernimmt die Versicherung. Pro Jahr muss man maximal einen Selbstbehalt von 700 CHF bezahlen. Ist diese Grenze erreicht, gehen sämtliche Kosten zulasten der Versicherung. Erreicht man also eine oder beide dieser Schranken, werden die weiteren Leistungen günstiger. Den Grossteil der Kosten übernimmt ab da die Versicherung und so werden mehr Leistungen nachgefragt. Es ist somit möglich, dass ein Patient Leistungen nachfragt, die nicht unbedingt notwendig sind.
Solange eine Versicherung vorhanden ist, lässt sich dieser Fehlanreiz nicht vermeiden. Man kann ihn aber durch eine Erhöhung der möglichen Franchisen oder eine höheren Selbstbeteiligung einschränken. Im Gegenzug ist mit dieser Lösung der Patienten schlechter versichert. Weil er einen grösseren Teil selber bezahlen muss, kann er sich weniger leisten. Falls jemand besonders wenig Geld zur Verfügung hat, kann er womöglich medizinisch notwendige Behandlungen nicht mehr bezahlen.
Eine andere Lösung ist ein Bonus-Malus-System. Verhält sich also jemand gesundheitsschädigend, müsste er mehr für die Versicherung bezahlen. Gesundheit förderndes Verhalten würde hingegen mit einer tieferen Prämie belohnt. Ein solches System kann jedoch als diskriminierend empfunden werden.
Prämienverbilligungen
Personen mit einem tiefen Einkommen haben den Anspruch auf verbilligte Krankenkassenprämien. Diese Prämienverbilligungen erhöhen in einem gewissen Sinne ihr Einkommen. Die betroffenen Leute beziehen dadurch mehr Gesundheitsleistungen, als sie sich sonst leisten würden oder könnten.
Man kann diesen Effekt einschränken, indem man die Prämienverbilligung aufhebt oder reduziert. Diese Lösung beschneidet aber einen Teil der heutigen Solidarität im Gesundheitswesen. Ohne Prämienverbilligung könnten viele Leute ihre Prämien nur noch schwer oder gar nicht mehr bezahlen. Es wäre somit wohl nicht möglich, für alle den gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen im obligatorischen Bereich im heutigen Masse aufrechtzuhalten.
Künstlich geschaffenes AngebotAls Angebot im ökonomischen Sinn wird allgemein die angebot...
Patienten wünschen sich im Allgemeinen eine möglichst gute Gesundheit. Als Folge der Moral Hazard Problematik fragen sie deshalb auch Gesundheitsleistungen nach, die über das medizinisch Notwendige hinausgehen. So werden die Anbieter künstlich angereizt, immer mehr Produkte und Dienstleistungen anzubieten. Im Jahr 2000 wurden diese Kosten in der Schweiz auf 2.5 Milliarden Franken geschätzt.
Lösen könnte man dieses Problem durch eine stärkere Beschränkung der gedeckten Leistungen. D.h. im Gesetz müsste klarer definiert sein, was notwendige und somit gedeckte Leistungen sind. Dies würde jedoch auf Kosten der Patientenzufriedenheit und evtl. der Gesundheit gehen. Gewisse gewünschte Leistungen würden nicht mehr konsumiert werden, da man sie selbst bezahlen müsste.
Fehlanreize auf der Angebotsseite
Auf der Angebotsseite des Gesundheitsmarktes stehen die Leistungserbringer (z.B. Ärzte, Spitäler) und die Versicherungen. Die Angebotsseite erhöht die Menge an Gesundheitsleistungen über Moral Hazard, künstliche geschaffene NachfrageAls Nachfrage im (mikro)ökonomischen Sinn wird allgemein di..., die Art der Kostenabrechnung und Risikoselektion.
Künstlich geschaffene NachfrageAls Nachfrage im (mikro)ökonomischen Sinn wird allgemein di...
Zwischen dem Arzt und Patient besteht eine Informationslücke, die zu einer erhöhten NachfrageAls Nachfrage im (mikro)ökonomischen Sinn wird allgemein di... führt. Zum einen kann der Patient bei verschiedenen zur Auswahl stehenden Behandlungen kaum selbst entscheiden, was das Beste für ihn wäre. Zum andern weiss der Arzt nicht, wie sich der Patient entscheiden würde, falls dieser über das gleiche medizinische Wissen verfügen würde. Deshalb hat ein Leistungserbringer den Anreiz, mehr Behandlungen durchzuführen, als der Patient selbst wählen würde.
Entschärfen könnte man dieses Problem beispielsweise mit einer Budgetbeschränkung für Ärzte oder Ärztegruppen. Dieser Ansatz funktioniert aber nur, wenn sich auch Leute mit hohen Gesundheitskosten für ein solches Modell entscheiden. D.h. entweder müsste es direkt für alle gelten oder man müsste es für diese Patienten attraktiv machen (z.B. über einen tieferen SelbstbehaltDer Selbstbehalt ist ein Prozentsatz mit dem sich ein Versic...). Zudem ist es möglich, dass die Qualität durch solche Modelle sinkt, weil man dann zu sehr auf tiefe Kosten fokussiert ist.
Kostenabrechnung
Heute werden die Leistungserbringer für die einzelnen Gesundheitsleistungen entschädigt. Weil es heute über den Preis keine negativen Auswirkungen gibt, wenn man zu viel anbietet, vergrössert sich die Anzahl der Leistungen.
Lösen könnte man dieses Problem, indem man statt für einzelne Leistungen, für den Behandlungsprozess als Ganzes bezahlen würde. Dazu würden sich beispielweise Ärztenetzwerke eignen, die die gesamte Behandlung organisieren können. Es klappt aber nur, wenn ein längerer Behandlungsprozess nicht automatisch zu mehr Einnahmen für das Netzwerk führt. Bei Spitälern hat mit der neuen Spitalfinanzierung über die Diagnosis Related Groups (DRG) ein ähnliches System Einzug gehalten. Je nach Krankheiten werden die Patienten in eine bestimmte Gruppe eingeteilt. Das Spital erhält dann für jede dieser Gruppen von Patienten eine festgesetzte Pauschale als Bezahlung des Spitalaufenthalts. Gegen solche Systeme wird eingewendet, dass sie den Kostendruck einseitig auf die Ärzte und Spitäler abwälzen.
Moral Hazard
Eine Versicherung ändert auch das Verhalten der Ärzte. Weil die Anbieter wissen, dass die Leute versichert sind, verschreiben sie mehr Leistungen. Für die Patienten entstehen aufgrund der Versicherung keine grossen Mehrkosten. Zum einen kann sich ein Arzt so relativ günstig absichern, genügend getan zu haben. Zum andern gibt es für ihn keinen Anreiz Leistungen abzulehnen, die er nur auf Wunsch des Patienten durchführen würde.
Wie auf der Nachfrageseite entsteht dieses Problem sobald jemand versichert ist. Lösen könnte man es ähnlich wie bei der Kostenabrechnung (siehe oben) erläutert.
Risikoselektion
Die Prämie, die eine Versicherung anbietet, hängt davon ab, wie krank die Versicherten sind und wie wahrscheinlich sie kränker werden. Verliert eine Versicherung gesunde Versicherte („gute Risiken“), steigen die durchschnittlichen Kosten pro Versicherten. Um dies auszugleichen muss die Versicherung höhere Prämien verlangen und wird noch unattraktiver. Deshalb machen die Versicherer „Jagd auf gute Risiken“. Diese Jagd erhöht die Kosten der Krankenkasse und kann sich auf die Prämienhöhe auswirken, ohne dass sich bei den Leistungen etwas ändert.
Bekämpfen kann man dieses Problem, indem die Krankenkassen für ihre Risiken einen Preis bezahlen. Dies geschieht heute bereits über den Risikoausgleich. Über die Faktoren Alter, Geschlecht und Aufenthalt in einem Spital oder Pflegeheim im Vorjahr wird die Risikostruktur einer Krankenkasse bewertet. Kassen mit guten Risiken müssen denjenigen mit schlechten Risiken eine Entschädigung zahlen. Die Wirkung des Risikoausgleiches ist momentan noch zu klein. Der Risikoausgleich wird wirksamer, wenn man die berücksichtigten Faktoren ergänzt. Bspw. könnten die in der Vergangenheit bezogenen Leistungen stärker miteinbezogen werden.
Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung einer Einheitskasse. Die Risikoselektion würde dadurch wegfallen. Diese Lösung würde aber weitreichende Änderungen auslösen und nicht nur die Risikoselektion betreffen.
Fazit
Die Kosten für das Gesundheitssystem werden auch weiterhin wachsen. Die aufgezeigten Fehlanreize betreffen einen Teil dieses Kostenwachstums und könnten wirksamer bekämpft werden als heute. Grundproblem der möglichen Lösungen ist, dass es meistens Zielkonflikte gibt. Mehr vom einen bedeutet fast automatisch weniger vom anderen. Befürwortet man beispielsweise einen höheren SelbstbehaltDer Selbstbehalt ist ein Prozentsatz mit dem sich ein Versic... oder gewichtet man den Versicherungsschutz höher? Dahinter steht die Frage, wie viel die Gesellschaft und wie viel der Einzelne tragen soll. Die Lösungen bedingen, dass man sich mit diesen Grundsatzfragen auseinandersetzt.
Literaturverzeichnis
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Oltner Tagblatt (2009, 4. Juni). „Realität zu komplex für Code“, S. 19.
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