Eine Frau wurde in einen Verkehrsunfall verwickelt. Hierauf entzog ihr das Straßenverkehrsamt aufgrund polizeilicher Verfügung den Führerschein. Sie verzichtete, Einsprache einzulegen. Das Gericht, das den Unfall untersuchte und beurteilte, kam zum Schluss, dass die Betreffende am Unfall keine Schuld traf. Das Schweizer Radio schreibt auf seiner Website dazu:
“Sie glaubte der Einschätzung der Polizei, dass sie für den Unfall die Schuld trage. Deshalb verzichtete die ‘Espresso’-Hörerin aus dem Kanton Zürich auf eine Einsprache und gab ihr ‘Billet’ gutgläubig für vier Wochen ab. Doch wenig später wurde sie überraschend von der Strafbehörde von Schuld und Strafe freigesprochen.
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Trotzdem sehen Behörden und Ombudsmann keinen ‘Justizirrtum’. Sie lassen die Automobilistin wissen, sie sei selber dafür verantwortlich, dass sie ihren Führerausweis so schnell abgegeben habe.
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‘Wenn nach einem Verkehrsunfall die Schuldfrage klar und eindeutig erscheint und die Schuld vom Unfallverursacher akzeptiert wird, sprechen wir die administrative Maßnahme aus, bevor die Strafbehörde den Fall beurteilt hat’, erklärt der Leiter der Abteilung Administrativmaßnahmen bei Straßenverkehrsamt des Kantons Zürich, Carlo Gsell. Damit könnten lange Wartezeiten vor einem fälligen Führerausweisentzug verhindert werden.
Betroffene hätten aber in jedem Fall das Recht, gegen eine solche Verfügung Einsprache zu erheben und den Vollzug der Maßnahme so hinauszuzögern. Wer auf eine Einsprache verzichte, riskiert im Fall eines Freispruchs, bei der Strafbehörde den Führerausweis zu Unrecht abgegeben zu haben.
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Auch der Ombudsmann hat ihr mitgeteilt, dass nicht die Behörden, sondern sie selber für die in diesem seltenen Fall zu früh angetretene Strafe verantwortlich sei.” (Schweizer Radio Fernsehen SRF, Kassensturz Espresso)
Da hat der Zürcher Ombudsmann, Dr. iur. Thomas Faesi (SVP), aber etwas übersehen: Einsprachen gegen amtliche und gerichtliche Verfügungen sind im schweizerischen Rechtssystem gebührenpflichtig, wenn sie abgewiesen werden, teils auch bei Anerkennung der Einsprachegründe (s.u. Anm. 1). Es sind dies Kosten, die bei Nachweis der Bedürftigkeit teilweise aufgeschoben werden können (s.u. Anm. 2). Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und zudem können sie bei Wegfall der Bedürftigkeit für die Betreffenden immer noch substanziell ins Gewicht fallen. Denn in der Regel gehören Menschen, die den Sprung aus der Bedürftigkeit heraus schaffen, dann immer noch zu den Niedriglohnverdienern.
Anders gesagt: faktisch muss man sich in der Schweiz Einsprachen gegen amtliche und gerichtliche Verfügungen finanziell schon leisten können, damit man überhaupt in der Lage ist, das Risiko einer kostenpflichtigen Abweisung der Einsprache einzugehen.
Man mag nun argumentieren, so müsse halt jede und jeder selber einschätzen, wie hoch die Chance auf Erfolg ist und nur Einsprache erheben, wenn das Risiko eines Misserfolgs so klein ist, dass man es sich zu leisten vermag. Hierbei erweist es sich allerdings als problematisch, dass das Rechtswesen der Schweiz durch unzählige durch die Gerichte vorgenommene eigenmächtige Abänderungen und sogenannte “Präzisierungen” der legislativ vorgegebenen Rechtsordnung, durch die sogenannte “Rechtspraxis” also, teils erheblich vom allgemeinen Verständnis der Rechtspflege und der Rechtsordnung, wie sie in den Gesetzen kodifiziert sind, abweicht. Denn dadurch ist es in sehr vielen Fällen für Nichtjuristen schlicht unmöglich abzuschätzen, ob ihre nach allgemeinem Rechtsverständnis und mit gesundem Menschenverstand – dieser ist natürlich vorauszusetzen – zwar wohlbegründeten Einwände gegen eine Verfügung dann auch in der sehr eigenen, mitunter bizarren, welt- und lebensfremden “Logik” schweizer Richterinnen und Richter (oder Beamtinnen und Beamten bei behördlichen Instanzen) Bestand haben werden (s.u. Anm. 3).
Hier könnte zwar eine gute Rechtsberatung durch eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt bei der Entscheidung weiter helfen. Eine solche nimmt selbst bei einfachen Fällen allerdings schnell einmal eine Stunde in Anspruch. Das entspricht in der Schweiz nicht selten einem Anwaltshonorar von 500.- Franken.
Läuft die Beratung auf einen Einspracheverzicht hinaus, ist man so klug als wie zuvor – gegen Bezahlung von 500.- Franken wohlgemerkt.
Unterstützt die Beratung hingegen eine Einsprache, weiß man freilich nicht mit letzter Sicherheit, ob auch das Gericht oder die behördliche Instanz die Meinung der Anwältin oder des Anwalts teilen wird. Schlimmstenfalls drohen bei Abweisung der Einsprache zusätzlich zu den Anwaltskosten die Verfahrenskosten. Unnötig vorzurechnen, was bei schwierigeren Fällen und Verfahren, die sich über mehrere Instanzen ziehen, an Anwalts- und Verfahrenskosten summiert. Ein solches Risiko muss man sich erst mal leisten können.
Der Ombudsmann des Kantons Zürich vertritt also die Ansicht, die im einleitend zitierten Fall betroffene Frau hätte gegen den vorschnellen Führerscheinentzug Einsprache erheben müssen, um ihn zu verhindern. Da sie auf Einsprache gegen den Führerscheinentzug verzichtet hatte, habe sie keinen Anspruch auf eine Entschädigung, nachdem in der gerichtlichen Beurteilung des zugrunde liegenden Sachverhalts die Betreffende von Schuld und Sühne nachträglich frei gesprochen wurde.
An dieser Stelle muss zwingend auf die Tücken des schweizerischen Rechtssystems hingewiesen werden, aufgrund der das vom Ombudsmann verlangte Vorgehen in vielen Fällen eben viel einfacher gesagt ist als getan:
- Namentlich ein Hinderungsgrund, seine Rechte einzufordern (selbst wenn man offensichtlich im Recht ist), sind die Kostenfolgen für unterlegene Verfahrensparteien. Den Hinderungsgrund bildet die Angst vor Kosten, denn auch wenn man objektiv feststellbar im Recht ist, bedeutet dies nicht automatisch, dass kantonale oder die schweizer Justiz dies – sofort oder nach längerem Instanzenweg – anerkennt.
- Als Tücke des schweizerischen Rechtssystems namentlich zu nennen ist somit die aus dem System der Kostenfolge erwachsende faktische und schwerwiegende Benachteiligung von Geringverdienerinnen und -verdienern (sowie des schätzungsweise 10-15% in relativer ArmutArmut bedeutet Unterversorgung in wichtigen Lebensbereichen ... oder am offiziellen “Existenzminimum” lebenden Teils der Bevölkerung) gegenüber jenem Teil der Gesellschaft, der sich Verfahren und Anwälte mit links leistet. Notabene: Unerschwinglich bleiben gerade auch Rechtsschutzversicherungen für jene Kreise, die jeden Rappen doppelt und dreifach umdrehen müssen, um ein halbwegs normales, menschenwürdiges Leben organisieren zu können.
Leistet sich die schweizer Gesellschaft hier also wieder einen Stand faktisch (fast) rechtloser Menschen, sozusagen eine Neuauflage der Leibeigenschaft, einfach modern aufgelegt? Keine gute Idee. Denn gegen ein solch widerwärtiges, menschenverachtendes politisch-gesellschaftliches System und seine Trägerinnen und Träger wäre Krieg zu führen völlig legitim und auch angesagt, bis es unwiderruflich ausgelöscht ist.
Anmerkungen:
- Es gibt in der Schweiz auch Fälle, in denen Gerichtskosten zu bevorschussen sind. Üblich ist dies im Zivilrecht. Zudem sind Anwaltskosten oft zu bevorschussen: selbst wer “gute Karten” hat, sein Verfahren zu “gewinnen”, aber zu den Geringverdienern gehört, muss erst einmal eine Anwältin oder einen Anwalt finden, die oder der nicht nur geeignet ist sondern auch auf Bevorschussung verzichtet. Dass das Gericht im Falle des Obsiegens die Anwaltskosten voll deckt, ist aber auch nicht garantiert. Pflichtverteidiger für Bedürftige gibt es im Strafrecht sodann erst, wenn eine Strafe von mindestens einem Jahr Gefängnis droht. Einen ganz speziellen Fall stellen Strafbefehle gegen im Ausland lebende Personen dar: wollen sie ihn anfechten (das heißt, dass die oder der Angeschuldigte ein ordentliches Gerichtsverfahren verlangt, in dem sie oder er gebührend Gelegenheit erhält, sich zu verteidigen), müssen sie offenbar 800.- Franken Verfahrenskosten bevorschussen, wenn man dem “Beobachter”-Bericht “Plötzlich im Gefängnis” vom 22.12.2010 Glauben schenken darf.
- Gerichtsgebühren werden in der Schweiz nicht dem Einkommen und Vermögen der Verfahrensbeteiligten angepasst sondern sind für alle gleich hoch (für Niedriglohnverdiener u.U. existenzbedrohend).
- Nicht zu sprechen davon, dass es für Nichtjuristen schon unmöglich vorherzusehen ist, welche Teile der Begründung einer Einsprache die offenbar teils selektive Wahrnehmung von schweizer Juristinnen und Juristen an Gerichten und in Behörden passieren, wie fair sie auf eine Einsprache und ihre Gründe überhaupt einzugehen gewillt sein beziehungsweise wozu Stellung zu nehmen sie sich foutieren werden, kurz: welche Informationen sie ignorieren und welche sie berücksichtigen werden. Ohne Anwalt laufen Laien zusätzlich Gefahr, dass sie mit Einsprachen nicht ernst genommen werden und Richterinnen und Richter oder Beamtinnen und Beamte machen, was ihnen gerade passt (z.B. social profiling). Die Gefahr der offenen oder unterschwelligen Rechtsverweigerung droht wohl umso stärker, wenn es um Fälle geht, bei denen die Betroffenen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Fehlverhalten von Behörden oder Gerichten nicht an die Öffentlichkeit bringen, konkret um Fälle, die Familien- und Privat- oder sogar die Intimsphäre tangieren, zum Beispiel Vergewaltigungsopfer und deren Angehörige, die nicht unbedingt mit ihrer Geschichte auch noch Öffentlichkeit wollen.
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