Dein Denken ist Gesellschaftswissenschaft, ein Wörterbuch der Theologie und Politik.
Meins ist ein einfaches Axiom, dein Denken spricht von der schönen Frau, der Hässlichen, der Tugendhaften, der Prostituierten, der Klugen und der Dummen. Meins sieht in jeder Frau eine Mutter, einer Schwester oder eine Tochter eines jeden Menschen. Dein Denken kreist um Diebe, Verbrecher und um Mörder. Meines erklärt, dass Diebe Geschöpfe der Ausbeutung sind, Verbrecher die Ausgeburt der Tyrannei und Mörder die Brüder ihrer Opfer. Dein Denken definiert Gesetze, Gerichtshöfe, Richter, Strafen. Meines erklärt:
Wenn der Mensch ein Gesetz macht, dann übertritt er es oder befolgt es.
Wenn es ein grundlegendes Gesetz gibt, dann sind wir vor ihm gleich. Wer den Niedrigen gering schätzt, ist selber niedrig. Wer den Sünder schmäht, schmäht die gesamte Menschheit. Dein Denken schmeichelt dem Gelehrten, dem Künstler, dem Intellektuellen, dem Denker und dem Priester. Meines spricht vom Liebenden und Liebevollen, vom Ehrlichen, vom Wahrhaftigen, vom Guten und vom Märtyrer. Dein Denken predigt Judentum, Brahmanismus, Buddhismus, Christentum, Islam. In meinem Denken gibt es nur eine Religion, und ihre vielfältigen Pfade sind lediglich die Finger der liebevollen Hand des höchsten Wesens. In deinem Denken gibt es die Reichen, die Armen und die Bettler. Mein Denken behauptet: Es gibt keinen anderen Reichtum als das Leben: Bettler sind wir alle, und der einzige Wohltäter ist das Leben.
Du hast dein Denken, und ich habe meins.
Laut deinem Denken besteht die Grösse der Nationen in ihrer Politik, ihren Parteien, ihren Konferenzen, ihren Bündnissen und Allianzen. Meins aber erklärt, dass die Bedeutung der Nationen in der Arbeit liegt – Arbeit auf dem Feld, Arbeit im Weinberg, Arbeit am Webstuhl, Arbeit in der Gerberei, Arbeit im Steinbruch, Arbeit auf dem Zimmerplatz, Arbeit im Büro und in der Presse. Dein Denken behauptet, die Glorie der Nationen seien ihre Helden. Es singt Loblieder auf Ramses, Alexander, Cäsar, Hannibal und Napoleon. Meines aber erklärt, dass die wahren Helden Konfuzius, Laotse, Sokrates, Platon, Abi Taleb, al-Ghazali, Dschalal ad-Din Rumi, Kopernikus und Pasteur sind. Dein Denken bemisst Macht nach Armeen, Kanonen, Schlachtschiffen, Unterseebooten, Flugzeugen und Giftgas. Meines aber behauptet, dass Macht in Vernunft, Entschlossenheit und Wahrheit besteht. Wie lang der Tyrann sich auch halten mag – am Ende ist er der Verlierer. Dein Denken unterscheidet sich zwischen dem Pragmatiker und dem Idealisten, zwischen dem Teil und dem Ganzen, zwischen dem Mystiker und dem Materialisten. Meines erkennt, dass das Leben eins ist und dass dessen Gewichte, Masse und Kategorien nicht mit deinem Gewichten, Massen und Kategorien übereinstimmen. Der, den du für einen Idealisten hälst, könnte ein praktischer Mensch sein.
Dein Denken und meines
Dein Denken ist ein tief im Erdreich der Tradition verwurzelter Baum, dessen Äste aus der Kontinuität ihre Kraft schöpfen. Mein Denken ist eine dahintreibende Wolke. Sie verwandelt sich in Wassertropfen, die zur Erde fallen und einen Bach bilden, der singend zur See zieht. Dann steigt sie als Dampf in den Himmel auf. Dein Denken ist eine Festung, die weder der Sturm noch Blitz erschüttern können. Mein Denken ist ein zartes Blatt, das in jeder Richtung flattert und Freude an seinem Flattern hat. Dein Denken ist ein uraltes Dogma, das dich so wenig ändern kann, wie du es zu ändern vermagst.
Du hast dein Denken, und ich habe meins
Dein Denken befasst sich mit Ruinen und Museen, Mumien und Versteinerungen. Meins aber schwebt in den immer neuen Dünsten und Wolken. Dein Denken sitzt auf einem Thron aus Schädeln. Da du so stolz darauf bist, hebst du es in den Himmel. Mein Denken wandert durch die dunklen, fernen Täler. Dein Denken trompetet dir zum Tanz. Meinem sind des Todes Qualen lieber als dein Getanze und deine Blechmusik. Dein Denken denkt an Klatsch und sinnfreie Vergnügungen.
Meins denkt an den der im eigenen Land verloren ist, an den Fremden in der eigenen Heimat, an den Einsamen im Kreis der Verwandten und Freunde.
Khalil Gibran: Der Gesang des Propheten
Und Du bedenke,
bist Du deinem hinterfragungswürdigen Denken,
am Ende dieses Jahres
immer noch treu ergeben?
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