Die Aka­de­mie der Geis­tes- und So­zi­al­wis­sen­scha​f­ten äussert sich zum So­zi­al­staat

NZZ vom Freitag, 02.03.2012; verfasst von Michael Schoenenberger

Ein vorsorgender Sozialstaat soll gesellschaftliche Probleme möglichst verhindern. Unbeant­wortet bleibt die Frage nach der Finanzierung neuer sozialstaat­licher Leistungen.

Mit einem Positionspapier zur künftigen Ausgestaltung der Sozialpolitik wartet die Schweizerische Akademie der Geis­tes- und Sozialwissenschaften (SAGW) auf. Konzipiert wurde die kleine Schrift von einer sozialwissenschaftlic​hen Ex­pertengruppe, Textredaktion und wis­senschaftliche Begleitung oblagen dem Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) in Bern. Dieses Büro — das auch von der Bundesverwaltung häufig mit Studien beauftragt wird — plä­diert regelmässig (natürlich immer wis­senschaftlich begründet) für eine Aus­weitung sozialstaatlichen Handelns. Es wurde auch schon als «linke Denk­fabrik» bezeichnet.

 Richtig​e Feststellungen

Im Positionspapier wird zweifellos die richtige Grundfrage aufgeworfen: Wie hat der Sozialstaat auf veränderte Le­bensformen, Strukturanpassungen auf dem Arbeitsmarkt, demografische Ent­wicklungen, Globalisierung und zuneh­mende Mobilität, auf das mangelnde Zusammenspiel der historisch gewach­senen sozialen Sicherungssysteme und auf Finanzierungsprobleme​ zu reagie­ren? Und es werden einige Bemerkun­gen gemacht, die es hervorzuheben gilt. «Eine gute Politik sorgt dafür, dass mög­lichst wenig Menschen an den Sozial­staat abgeschoben werden», ist einlei­tend zu lesen. «Es gilt, eigenverantwort­liche​s Handeln zu ermöglichen, wo immer es geht», steht im Schlusswort.

 Viel Widersprüchliches

Im​ Widerspruch dazu steht jedoch vie­les, was zwischen Einleitung und Schlusswort ausgeführt und gefordert wird. Grundsätzliche Kritik erfährt die angeblich «reaktiv ausgerichtete Sozial­politik». Deshalb müsse dem «Präven­tions- und Integrationsansatz» mehr Gewicht beigemessen werden. Im Klar­text: Der Sozialstaat soll überall dort präventiv eingreifen, wo möglicherwei­se — vielleicht auch erst später — gesell­schaftliche Probleme auftreten.

Gehuldigt​ wird also dem vorsorgen­den Staat, was so gar nicht zum eigen­verantwortliche​n Prinzip passen will. Beispiel: Zur Vermeidung möglicher späterer Probleme sollen Kinder — be­sonders Migrantenkinder — möglichs früh weg von den Eltern. Flächen­deckend brauche es Betreuungsstruktu­ren​ sowohl im Vorschulalter als auch an Schulen. Die Vorschulbetreuung soll kostenlos sein. Gefordert werden auch staatliche Direktzahlungen an einkom­mensschwache Familien, eine finanzier­te Auszeit für Eltern oder das Recht auf Beurlaubung, wenn Angehörige zu pfle­gen sind.

 Fehlende Positionsbezüge

Zur Finanzierbarkeit der sozialpoliti schen Wünsche steht im Papier nichts. Der Primat der Finanzpolitik wird über7 dies hinterfragt. Zwar, so ist immerhin zu lesen, wären finanzielle Nachhaltig­keitsregel​n erwünscht, wobei diese nicht «allein auf der Ausgabenseite» an­zusiedeln seien.

Da und dort hätte man sich in einem Positionspapier klarere Stellungsbezüge gewünscht. Wie etwa die Meinung der SAGW zu einem bedingungslosen oder einem bedingten Grundeinkommen ist, geht nicht eindeutig hervor. Aus intel­lektueller Sicht schmerzlich vermisst wird die Auseinandersetzung mit Alter­nativen, die das Heil nicht in mehr Staat, sondern in privaten Vorsorge­modellen suchen. Diese kompatibel zu machen mit Anliegen der gesellschaft­lichen Solidarität, wäre ein echter Bei­trag zu mehr Eigenverantwortung.


Rhoenblicks Kommentar:

Herr Schoenenberger geht mit diesem sozialpolitischen Wirrwar der SAGW viel zu pfleglich um. Ein Direktimport aus Deutschland. Aber Deutschland ist nicht die Schweiz.

Lippenbeken​ntnisse

Unter dem Titel „Wie viel darf es denn sein?“ berichtet Michael Schoenenberger (03.03.2012) über neue Forderungen zur Ausgestaltung der Sozialpolitik, die von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) erhoben werden. Der  Redaktor zitiert zustimmend das Schlusswort, dass eigenverantwortliches​ Handeln zu ermöglichen sei, wo immer es geht. Diesen zu tiefst liberalen Grundsatz nimmt er der SAGW ab, muss aber im Folgenden „Viel Widersprüchliches“ feststellen und „Fehlende Positionsbezüge“ orten. Ich bin der Meinung, dass die SAGW diesen oben zitierten Grundsatz nur anführt, um den Widerstand, den die Forderungen in ihrem Positionspapier auslösen sollten und müssten, im Keime zu ersticken – das pathetische Schlusswort bleibt beim Leser hängen.

Die Ideen sind alle aus Deutschland importiert. Sie  werden hier seit Jahren hartnäckig von der linkslastigen CDU durchgeboxt. Da ist einmal die Idee der Kindertagesstätten (KiTas): Alle Kinder – nicht nur „besonders Migrantenkinder“ – müssen möglichst früh weg von der Familie, sie sind dem Einfluss der Familie zu entziehen. In Konsequenz besteht für Kinder im Kindergartenalter ein Rechtsanspruch auf einen wohnortnahen halbtägigen Platz in einer Kindertagesstätte ab dem 3. Lebensjahr. In den KiTas sollen die Kinder unterhalten, genährt und erzogen werden. Ich formuliere – sie sollen sozial normiert, zu gefügigen Staatsbürgern geformt werden. Die Erzieherinnen führen Buch über die soziale Entwicklung der Kinder – typisch deutsche Bürokratie und deutscher Obrigkeitsstaat: Die Erzieherinnen haben die Eltern zu Gesprächen einzubestellen, wenn das Kind sich nicht nach der Norm verhält. Deutschland wirft Milliarden aus, um letztendlich für alle Kinder solche KiTas zu errichten, das Heer der Erzieherinnen zu mobilisieren, die KiTas zu betreiben. Ab dem 1. August 2010 ist der Besuch des Kindergartens für Kinder vom vollendeten zweiten Lebensjahr an beitragsfrei. (Kindertagesstättenge​setz). Vorreiter dieser KiTas war die DDR und sind heute die aus ihr hervorgegangen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Vor kurzem ist in Deutschland die aus Steuergeldern finanzierte Auszeit für Eltern – Mütter und Väter – eingeführt worden. In Deutschland werden soziale Leistungen mit der Giesskanne ausgerichtet. Ein Beispiel: Der Anspruch auf Elterngeld (Elternzeit) entfällt erst ab einem zu versteuernden Einkommen in Höhe von mehr als € 250.000, bei zwei Personen erst ab € 500.000 (Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit – BEEG). In Deutschland wird auch ernsthaft ein allen Menschen in diesem Land zustehendes, von Arbeit unabhängiges Grundeinkommen diskutiert. Auch das will die SAGW bei uns verwirklichen.

Kurz und gut: Aus der eigenen Ideenküche dieser Geistes-Akademie stammt kein Vorschlag im Positionspapier. Diese Akademie gibt sich nicht einmal die Mühe, diesen deutschen Sozialkram schweizerischen Verhältnissen und Mentalitäten anzupassen.

Zu Recht rügt Redaktor Schoenenberger, dass sich die SAGW zur Finanzierbarkeit ihrer sozialpolitischen Ideen ausschweigt. Ich bin überzeugt, aus der Sicht der  SAGW müssten diese Ideen mit Steuergeldern verwirklicht und am Leben erhalten werden. So ist es in Deutschland. Die direkten Steuern und die Mehrwertsteuer (19%) sind dort –  im Vergleich zu unserem Land – sehr viel höher.

Ich lebe seit zehn Jahren, seit meiner Pensionierung in diesem Land und meine, aus Diskussionen, Presse und ausgewählten Fernsehsendungen mit der deutschen Mentalität vertraut geworden zu sein. Auffallend ist der Glaube, dass, wenn der Staat rechtzeitig, präventiv, eingreift, soziale Probleme – „vielleicht auch erst später” –  gar nicht auftreten können. Eine von sozialistischen  Ideen geprägte Geisteshaltung, die an der Wirklichkeit scheitern muss. In Deutschland ist auch nach fast hundert Jahren Abkehr vom Feudalismus (1919)  in allen Bereichen, auf allen Ebenen immer noch wenig von Selbstverantwortung, von Selbstbestimmung zu spüren. Der Staat wird’s schon richten – zurzeit ist dies Frau Angela Merkel.

 

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